Nicht nur Gabriel Bagradian, auch jeder Armeniersohn in dem zweiten Graben wußte, was auf dem Spiele stand. Leben, Geist und Körper jeglichen Mannes war schwarze Nacht, in der nur ein unerträglich scharfer Brennpunkt glühte: der Visierblick aufs Ziel. Hier gab es keine Führer und keine Führung mehr, sondern lediglich das versteinernde Bewußtsein: Hinter mir das offene Lager, die Frauen, die Kinder, mein Volk! – und so war es. Sie warteten in gewohnter Weise, bis keine Kugel mehr fehlen konnte. Auch Gabriel und Aram Tomasian schossen das erstemal mit unbewegtem Blick auf ihre Opfer, wie im Traum versunken. Das nächste geschah über ihren und Nurhans Willen hinweg, das heißt, ihr Wille war in dem der Gesamtheit völlig gelöst. Nachdem sie die fünf Patronen der Magazine verschossen hatten, luden sie nicht mehr von neuem. Wie auf einen einzigen scharfen Befehl schwangen sich die Armeniersöhne aus dem Graben. Es war alles so ganz anders als damals am vierten August. Kein einziger Blutschrei drang zwischen den fest aufeinandergepreßten Lippen hervor. Stumm und schwer warfen sich vierhundert Männer jeden Alters bis zu fünfzig Jahren auf die entsetzte Türkenjugend, die sofort aus ihrem Rausch erwachte. Ein finster wogender Nahkampf, Mann gegen Mann. Was halfen da die langen Bajonette auf den Mausergewehren. Bald bedeckten sie den Grund der Bodenwelle. Die knochigen Armenierfäuste suchten unabwendbar die Gurgeln der Todfeinde, und ihre starken Zähne verbissen sich raubtierhaft und besinnungslos in die Türkenkehlen, um das Blut der Rache zu trinken. Schritt für Schritt wich die Linie der Kompanie zurück. Die Saptiehs aber, die der alte Bimbaschi – der nicht mehr seine rosigen, sondern die violetten Wangen eines Schlaggerührten hatte – in den Kampf werfen wollte, ließen ihn im Stich. Ihr Offizier erklärte, die Gendarmerie sei eine Ordnungs- und keine Kampftruppe und daher zu Sturmangriffen auf einen bewaffneten Feind nicht verpflichtet. Auch unterstehe sie den bürgerlichen Pflichten und nicht der militärischen Macht. Der seiner Natur nach so milde Bimbaschi drohte in besinnungsloser Wut, er werde den Offizier mit all seinen Saptiehs samt und sonders erschießen lassen. Wer trage denn die Schuld an dem ganzen Armenierdreck? Die Beamten und das feige, stinkende Saptiehpack, das gegen hilflose Frauen und Kinder mutig sei und sonst nur rauben, morden, stehlen und vergewaltigen könne. All seine Wut half dem Alten nichts. Die beleidigten Saptiehs verließen den Graben und zogen sich auf die Gegenhöhe zurück. Und doch, niemand kann wissen, wie das würgende Ringen geendet hätte, wäre in dieser Stunde nicht Hilfe gekommen.
Als die Kunde von dem Steinlawinen-Wunder und von der völligen Vernichtung der türkischen Südgruppe die Stadtmulde und die Zehnerschaften der freien Abschnitte erreicht hatte, wurde das ganze Volk von kampfdurstiger Raserei erfaßt. Ter Haigasun und der Führerrat konnten die Ordnung nicht mehr aufrechterhalten. In lästerlichem Übermut fühlten sich die Seelen der göttlichen Unterstützung sicher. Die Ordonnanzen berichteten inzwischen von dem Rückzug im Norden. Die Reserve griff zu ihren Krampen, Hacken und Äxten. Männer und Weiber schrien auf Ter Haigasun ein: Zum Nordsattel! Sie wollten es heute den Türkenhunden zeigen! Dem Priester blieb nichts andres übrig, als sich an die Spitze des hellen Haufens zu stellen. Auch die freien Zehnerschaften strömten gegen Norden. Die regellose Übermacht, die von allen Seiten mit Wahnsinnsheulen einbrach, entschied die Schlacht binnen weniger Minuten. Die Türken wurden bis über den eroberten Graben hinaus in ihre Ausgangsstellung zurückgeschleudert. Bagradian rief Ter Haigasun zu, er möge die Reserve sogleich ins Lager zurückführen. Wenn die Haubitzen jetzt ihr Feuer eröffneten, würde in dem dichten Menschenknäuel unabsehbares Unglück geschehen. Mit großer Mühe gelang es dem Priester, die entfesselte Horde wieder zurückzutreiben. Schweiß- und blutbedeckt begannen die Verteidiger indessen, die zerstörten Stellen des Hauptgrabens in fieberhafter Eile auszubessern. Gabriels gemarterte Nerven erwarteten in jedem Augenblick die erste Granate. Bis zur Dämmerung war es noch länger als eine Stunde.
Die Granate, deren Heulen Bagradian ununterbrochen hörte, kam und kam nicht. Hingegen ereignete sich etwas ganz Unerwartetes. Ein langes Trompetensignal sprang auf. Hinter dem Waldrand der Gegenhöhe entstand lebhafte Bewegung, und sehr bald meldeten die Späher, daß sich die türkische Streitmacht im Eilschritt zurückziehe, und zwar auf dem kürzesten Wege ins Tal. Man konnte noch bei vollem Tageslicht beobachten, wie sich die Truppen auf dem Kirchplatz von Bitias lagerten und wie der Oberst mit seinem Stab in scharfem Trab über Yoghonoluk und die südlichen Dörfer gegen Suedja ritt. Es war ein Tag, siegreicher und vor allem gnadenreicher als der vierte August. Und doch herrschte am Abend kein Jubel, ja nicht einmal eine glühende Freude, weder in den Stellungen noch auch in der Stadtmulde.
Man hatte die Toten heimgebracht. Nun lagen sie, unter ihren Decken verborgen, in einer Reihe auf dem ebenen Weideplatz, den Ter Haigasun wegen seiner besonders dicken Erdschicht zum Kirchhof bestimmt hatte. Seit dem Tage des Aufbruchs waren bisher nur drei alte Leute gestorben, deren frische Gräber rohe Kalkblöcke mit schwarz daraufgemalten Kreuzen kenntlich machten. Jetzt wurden auf einmal sechzehn neue Grabstellen notwendig, denn zu den Opfern des Haubitzenfeuers kamen acht Männer, die im Nahkampf gefallen, und fünf andere, die im Laufe der Stunden ihren Wunden erlegen waren. Zur Seite jedes Toten hockte seine Verwandtschaft. Doch kein lautes Wehgeschrei, sondern nur wimmerndes Klagen ertönte.
Rings um den Lazarettschuppen lagen die Verwundeten mit ihren eingeschrumpften Gesichtern und versunkenen Frageaugen. Der Innenraum konnte nur einen kleinen Teil von ihnen fassen. Der alte Arzt hatte eine unabsehbare Arbeit zu leisten, der er sich weder mit seinen Kenntnissen noch mit seinen Kräften gewachsen fühlte. Ihn unterstützten außer Mairik Antaram noch Iskuhi, Gonzague und Juliette. Besonders Juliette arbeitete an diesem Tage mit einer geradezu wilden Hingabe, als wollte sie in dem Dienst an den Verwundeten ihren Mangel an Liebe für dieses Volk gutmachen. Sie hatte die wohlbestellte Hausapotheke herausgeschleppt, die vor der Abreise in den Orient von dem Pariser Hausarzt der Bagradians eigens zusammengestellt worden war. Ihre Lippen waren farblos. Manchmal schwankte sie, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Dann suchte ihr Blick Gonzague. Sie sah ihn an, nicht wie einen Geliebten, sondern wie einen erbarmungslosen Mahner, der sie zwang,