Stimmen in der Nacht weckten ihn. Die Saptiehs schienen ihre Jagd auf diesen Platz auszudehnen. Sie knallten ein paar Schüsse aus dem Gehölz. Dann wurde es still. Stephan glaubte nicht, daß sie abgezogen wären. Gewiß hatten sie ihn entdeckt und lauerten nur auf den Augenblick, wenn er sich erheben werde. Der Himmel war schwarz und ohne Mond; so lange hatte er vorhin geschlafen. Nur wenige Sterne sah man jetzt, verwischt und aufgesogen wie von einem Löschblatt. Der Raum war eng und eingesargt. Dem Knaben kam es vor, als läge er nicht auf dem Erdboden, sondern auf einem eklig elastischen Hügel von klebrigen Schnecken. Und doch, er durfte sich nicht rühren, nicht aufstehen, da die Saptiehs lauerten. Wenn er aber den Tag abwartete, dann war er doppelt und dreifach verloren. Endlich entschloß er sich, zuerst auf dem Bauch, nachher auf den Knien ein Stück vorwärtszukriechen. Die Welt war voll gestaltloser Hindernisse. Vorsichtig richtete er sich auf. Unter seinen Füßen dehnte sich ein unebenes Etwas mit Spitzen und Zacken und rechts und links von ihm ein gepanzertes Etwas mit Stacheln und Ruten. Er zwängte sich durch die dornige Blindnis. Gewiß haben sie den blonden Hagop schon umgebracht, und er ist schuld daran. Doch auch Stephan wird nie wieder heimkommen. Seine Hand, die Iskuhis Bibel umkrampfte – die anderen Bücher hatte er fortgeworfen –, war trotz der warmen Nacht steifgefroren. Nachdem er noch ein sinnloses Stück durch diese ungeschaffene Welt geirrt war, schaltete er die Taschenlampe ein, gewärtig, Saptieh-Schüsse würden sofort aus dem Hinterhalt krachen. Da nichts geschah, ließ er die Lampe brennen, obgleich sie seinen Irrweg nicht klärte. Dennoch aber führte er den Retter herbei. Unversehens lag Stephan einem Menschen in den Armen: Haik. Der Bursche hatte, dank Satos Verräterei, noch rechtzeitig von dem Wahnwitz des Durchbrennens erfahren. Er war über Stephans freche Selbständigkeit, die ihn auszuschalten wagte, sehr erbost, zugleich aber erfüllte ihn als Stärkeren und Überlegenen die Sorge um den anmaßenden Herrensohn, der diesem Unternehmen nicht gewachsen war. Obwohl er ihn anfangs seinem Schicksal überlassen wollte, hatte es ihn später doch nicht auf dem Damlajik geduldet, und er war zu dem gefährlichen Zeitpunkt ins Tal gekommen, als die Saptiehs mit ihrer Treibjagd auf die vermutete Armenierschar begannen. Seine unbestechlichen Sinneskräfte hatten ihn schließlich in die Nähe Stephans geführt, als dessen Lampe aufglomm. Nun schüttelte er wütend den Bagradiansohn:
»Da hast du es, was du für ein dummer Prahler bist!«
Stephan war zu schwach, um für seine Schande eine ehrenvolle Rechtfertigung zu finden. Er hing schwer an Haiks Arm und ließ sich von ihm schleppen. Doch von Schritt zu Schritt gewann er, an der Seite des unüberwindlichen Rivalen, mehr von seinem Mute zurück. Er hielt ihm die Beute vor die Nase:
»Die Bibel der Iskuhi Tomasian hab ich aus dem Haus geholt.«
Die glosenden Reste eines Feuers stiegen aus dem Nichts, keine fünfzig Schritt von ihnen entfernt. Unter den Friedhofsleuten saßen Sato und Hagop. Stephan überwand seine Zerschlagenheit. Nur zurück! Haiks Führerschaft machte ihn sicher. Sein Vater fiel ihm ein. Das Abenteuer der heutigen Nacht ließ sich nicht verbergen. Er fürchtete den Empfang. Trotz Stephans Ungeduld dauerte der Heimweg endlos. Sie mußten immer wieder Rast halten, denn Hagop kam nicht vorwärts. Stellenweise schleiften Haik und Stephan oder Haik und Sato den armen Krüppel, den sie untergefaßt hielten, ein langes Stück über den steilen Pfad. Hagop weinte die ganze Zeit. Es war zuviel für ihn gewesen. Er hatte nicht mehr die Kraft, es den Gesunden gleichtun zu wollen. Es war schon sieben Uhr, als sie bei den Stellungen auftauchten. Die drei sahen gespenstisch aus, wie Verwundete. Stephan mußte sich sofort mit einem Schüttelfrost zu Bett legen. Es kam zu einer großen Szene mit Mama:
»Wenn du solche Abscheulichkeiten begehst, bist du genau so wie Sato, ein schmutziger Vagabund. Dann mag ich dich gar nicht!«
Diese Worte waren ehrlich und taten ihr weh. Juliette hatte zornige Tränen in den Augen:
»Was ist dir eingefallen? Warum hast du das getan?«
Stephan schwieg, denn er wagte nicht die Wahrheit zu sagen. Er spürte genau, daß er dadurch das Verhältnis zwischen Mama und Iskuhi schwer getrübt hätte. Er haschte nach der abwehrenden Hand seiner Mutter, Verzeihung suchend, wie er's als kleines Kind getan, wenn er nicht trotzig war. Unter der Decke aber hielt er die Bibel Iskuhis ängstlich zwischen die Knie geklemmt, damit Mama sie nicht finde.
Als er jedoch später allein mit dem Vater war und dieser, dicht vor ihm stehend, immer eindringlicher und mit ernsten Augen den Grund seiner frevelhaften Schicksalsversuchung von ihm wissen wollte, da gab er endlich, nach langem Leugnen und Geschichtenerfinden, sein Geheimnis preis. Bis auf die Brust errötend, zog er die Bibel hervor. Der Vater nahm sie in die Hand, blätterte zerstreut in ihr, klappte sie zu, bekam ein strenges und hartes Gesicht, so daß Stephan schon auf eine sehr schwere Strafe gefaßt war. Anstatt dessen aber gab ihm Papa Iskuhis Bibel zurück, ohne den Vorfall auch nur mit einem Worte mehr zu berühren. Ehe er aber das Zelt verließ, erteilte er Stephan den Befehl – und zwar weit mehr im dienstlichen Ton des kriegerischen Befehlshabers als in dem gebietenden des Vaters –, er habe sich von nun an täglich nach dem Erwachen und vor dem Schlafengehen bei ihm zu melden, wo immer er sich auch in diesen Stunden aufhalte. Awakian bekam Auftrag, die Jungen fortan schärfer im Auge zu behalten.
Gabriel Bagradian hatte die Schonzeit, die ihm die Türken gewährten, nicht müßig verstreichen lassen. Man konnte nun wirklich sagen, daß die Verteidigungswerke auf einen vollgültigen Stand gebracht waren. Die Männer der Zehnerschaften und die Arbeiter der Reserve hatten in dieser Woche nicht weniger schuften müssen als in den Tagen vor dem vierten August. Die Stellungsgräben waren nun alle verlängert und vertieft, das Vorfeld durch Hindernisse gesichert. Zu den zweiten Gräben führten Verbindungsgänge, ebenso zu den vorgeschobenen Nestern, die mit Zweigen bedeckt waren, um den tapfersten Schützen Gelegenheit zu geben, den Angreifern in den Rücken zu fallen oder die Stolpernden niederzumachen. Gabriel zerdachte sich unablässig den Kopf, um an allen dreizehn Einfallspunkten Listen, Kunstgriffe und Fallen der Verteidigung zu erfinden, die den Ausgang des Kampfes immer weniger von der menschlichen Zuverlässigkeit abhängig machen sollten. Seine flüchtig erworbenen Kenntnisse an der Offiziersschule in Stambul und seine Erfahrungen aus den Artilleriekämpfen von Bulaïr halfen ihm weniger dabei als ein altes taktisches Lehrbuch des französischen Generalstabes, das er einmal der Kuriosität halber bei einem Antiquar erstanden hatte. Angesichts dieses Buches, das nun so zu unerwarteten Ehren kam, beschlich Gabriel ein sonderbar philosophisches Gefühl (kein rechter Gedanke): Diese Taktik habe ich seinerzeit nichtsahnend gekauft, nur weil mir das Titelblatt gefiel, oder weil mich der unbekannte Stoff anzog, obgleich mich Militärwissenschaft damals gar nicht interessiert hat. Und doch, in jener Stunde des Kaufes hat mein Schicksal, ganz unabhängig von meinem Willen, vorbewußt aus mir gehandelt. Ja, dieses mein Kismet scheint wirklich fix und fertig zu sein von A bis Z. Denn schon im Jahre 1910 hat es mich vor der alten Buchhandlung am Quai Voltaire nur deshalb festgehalten, weil es dieses Buches für seine späteren Zwecke bedurfte. Ich war also nur der Schauspieler meines Kismets, wie wenn etwa Coquelin als Marquis in der Komödie seine Handschuhe auf dem Tisch vergißt, und dann wird er, rückkehrend, Madame mit ihrem Geliebten ertappen. Nur weiß Coquelin zwischen sich und dem Marquis einen Unterschied zu machen. Bei mir aber fällt mein Selbst mit der Rolle allzufest zusammen.
Dies war übrigens die einzige philosophische Träumerei, die Gabriel Bagradian seit Wochen unterlief. Er schüttelte sie auch sogleich wie etwas Lästiges ab. Schon während seiner Kampfvorbereitungen in Yoghonoluk hatte er bemerkt,