Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
Скачать книгу
oder Onbaschi Faustschläge austeilte und für den Armeniersohn eine eigene Bastonnade vorrätig war. Und trotz alledem: das hündische Gefühl der Angst und Ergebenheit gegen diesen wohlwollenden Staat wurde auch der Armeniersohn nicht los. So war es denn mehr als verständlich, daß, abgesehen von Pastor Tomasians kopflosem Ausbruch, kein Einheimischer, sondern ein Fremder, ein Freigelassener, den ersten planvollen Gedanken der Selbstverteidigung unter die Menge warf. Denn nur dieser Freigelassene besaß die nötige Unschuld, den Gedanken auch auszusprechen. Das Volk aber hatte sich damit noch lange nicht abgefunden. Der Streit schien zu wachsen, das Kreischen und das Fäustegeschüttel, das diesen sonst so scheuen Frauen und ernsten Männern gar nicht anstand. Es läßt sich leicht vorstellen, daß die kleinen Kinder, welche die Mütter im Arm oder auf dem Rücken trugen, das allgemeine Tosen durch ihr Gezeter noch verschärften. Ohne Zweifel erkannten auch die Kinderseelen in diesem Augenblick die Gefahr und wehrten sich mit schrillen Wiehertönen gegen den nahenden Tod. Gabriel sah schweigend auf den Trubel hinab. Ter Haigasun trat zu ihm. Mit den Fingerspitzen seiner beiden Hände rührte er Bagradians Schultern an. Es war der Keim, der entschlossene Versuch einer Umarmung. Eine Gebärde des Segnens und der Selbstüberwindung zugleich. Auf dem Grund seiner demütigen und harten Augen stand vielleicht zu lesen: So haben wir es miteinander ohne ein Wort vereinbart. Ich habe das von dir erwartet. Gabriel hatte, sooft er mit Ter Haigasun zusammentraf, die Empfindung gehabt, daß sich dieser vor ihm verschließe, ja daß er ihn sogar aus einem unbekannten Grunde abweise. Deshalb machte ihn die versuchte Umarmung des Priesters jetzt betroffen und regungslos. Ter Haigasuns leidensschmale Finger glitten von seinen Schultern ab.

      Inzwischen versuchte Pastor Harutiun Nokhudian die Menge zu beruhigen. Der kleine dürftige Mann hatte dabei mit seiner Frau zu kämpfen, die sich erregt an ihn drängte und es verhindern wollte, daß er eine Unvorsichtigkeit begehe. Nur langsam gelang es Nokhudian, sich Gehör zu verschaffen. Er mußte seine schwache Stimme, so hoch er konnte, anspannen:

      »Christus befiehlt uns streng, der Obrigkeit zu gehorchen. Christus befiehlt uns streng, dem Übel nicht zu widerstreiten. Mein Amt ist das Evangelium. Ich kann als Hirte meiner Herde keiner Widersetzlichkeit zustimmen.«

      Der Pastor, der im Hause Bagradian meist den Eindruck eines kleinlaut kränklichen Männchens gemacht hatte, bewies nun in der Begründung seines Standpunktes große Festigkeit. Er schilderte die Folgen einer bewaffneten Auflehnung, wie er sie sah. Dieser Aufruhr erst gebe der Regierung das volle Recht, die verruchte Maßregel in ein rücksichtsloses Rachewerk zu verwandeln. Dann sei auch der Tod nicht mehr die verdienstvolle Leidensnachfolge des Herrn, sondern eine gesetzesmäßige Strafe für Aufrührer. Und nicht nur die Seelen der hier Versammelten würden mit dem Frevel der Rebellion vor Gott belastet sein, sondern diese kehre sich in ihrer Auswirkung unaufhaltsam gegen die gesamte Nation, gegen alle Armeniersöhne und -töchter. Sie schenke den Herrschenden vor der ganzen Welt eine willkommene Handhabe, die armenische Millet nachweislich als Ehebrecherin der Staatsgemeinschaft und als Hochverräterin zu brandmarken. Eine gute Frau dürfe ihr Haus auch dann nicht preisgeben, wenn der eigene Mann sie mißhandle. Dies war die Ansicht Harutiun Nokhudians, in dessen Haus die Dinge umgekehrt lagen, da die Seinige ihn nicht nur in Gesundheitsfragen tyrannisierte. Seine angestrengte Stimme drohte zu brechen:

      »Wer aber kann behaupten, daß unsere Austreibung unbedingt das Ende sein muß, wie Ter Haigasun und Aram Tomasian es weissagen? Sind Gottes Ratschlüsse nicht auch für sie unerforschlich? Hat der Herr nicht die Macht, uns Hilfe von allen Seiten zu senden? Wohnen nicht überall Menschenseelen, auch unter Türken, Kurden und Arabern, die sich erbarmen? Werden wir nicht, sofern wir uns unser Gottvertrauen bewahren, Wohnung und Nahrung auch in der Fremde finden? Ist es nicht möglich, daß die Rettung, während wir verzweifeln, schon unterwegs ist? Findet sie uns hier nicht, so wird sie uns vielleicht in Aleppo finden. Geschieht in Aleppo nichts, so wollen wir auf die nächste Station hoffen. Unser Leib wird bitter leiden, aber unsere Seelen werden frei sein. Wenn wir zwischen einem schuldlosen und einem sündhaften Tod zu wählen haben, warum sollen wir den sündhaften wählen?«

      Harutiun Nokhudian konnte nicht weiterreden, denn sein mageres Stimmchen wurde von einer tiefen und entschiedenen Frauenstimme zur Seite geschoben. War diese kampflustige Erscheinung im schwarzen Matronengewand wirklich Mütterchen Antaram, die Frau des alten Arztes? War's wirklich Mairik Antaram, die Helfende und Betreuende, das Mütterchen der Mütter, von der auch diejenigen, denen sie mit Rat und Tat beistand, nie eine längere Rede gehört hatten? Das schwarze Spitzentuch war von ihrem nicht gänzlich ergrauten, in der Mitte gescheitelten Haar in der Erregung zurückgeglitten. Aus dem tief geröteten Gesicht sprang die kühne Nase adlig vor. Aus breiten Hüften wuchs die kraftausströmende Gestalt mit dem zurückgeworfenen Kopf hoch. Tausend streitsüchtige Runzeln umkränzten die hellen, blauen Augen. Und doch, Antaram Altouni war jung vor herrlicher Empörung:

      »Ich bin eine Frau« – die gesättigte Stimme ertrotzte sich mit ihrem ersten Laut völlige Ruhe –, »ich bin eine Frau und spreche für alle Frauen hier! Viel habe ich erlitten! Mein Herz ist oft und oft gestorben. Der Tod ist mir längst gleichgültig. Ich werde gar nicht hinschauen, wenn er kommt. Doch in der Erniedrigung will ich nicht zugrunde gehen, auf der Landstraße werde ich nicht krepieren und nicht auf freiem Feld verfaulen, ich nicht! Doch auch nicht leben will ich bleiben in einem der Deportationslager unter den ehrlosen Mördern und den ehrlosen Opfern, ich nicht! Wir Frauen wollen das alle nicht, nein, wir alle nicht!! Und wenn die Männer zu feig sind, so werden wir Weiber allein uns bewaffnen und auf den Musa Dagh ziehen ... Mit Gabriel Bagradian!«

      Dieser fanatische Aufruf erregte einen Tumult, der den vorherigen weit übertraf. Es hatte den Anschein, als ob die Sinnberaubten im nächsten Augenblick die Messer ziehen und so dem Blutbad durch die Türken zuvorkommen würden. Schon wollten sich die Lehrer mit Schatakhian an der Spitze unter die Menge werfen, um die Streitenden zu trennen und im Notfall Polizeidienste zu leisten. Mit einem kleinen Wink rief sie Ter Haigasun zurück. Besser als alle Lehrer und Muchtars kannte er sein Volk. Dieser Ausbruch war kein Streit. Leere Erregung. Das Bewußtsein der Tausende, das mit dem Austreibungsbefehl noch nicht fertig geworden war, mußte jetzt die schallenden Worte der Redner langsam aufsaugen. Ein Blick des Priesters sagte: Laßt sie nur. Geduldig sah er dem Tumult zu, in dem die Frauenstimmen, durch Antaram aufgestachelt, immer mehr die Oberhand gewannen. Er verhinderte es auch, daß andre Redner, die sich meldeten, wie zum Beispiel Oskanian, der Lehrer, das Wort nahmen. Er hatte recht damit. Der Lärm, dem keine Nahrung mehr zugeworfen wurde, brach schneller zusammen, als man hätte meinen sollen. Nach einigen Minuten war er in sich selbst erstickt und nur Murren und Schluchzen blieb übrig. Jetzt war der Augenblick für Ter Haigasun gekommen, um mit schlagfertiger Knappheit eine rasche Klärung und Entwicklung der Dinge herbeizuführen. Er machte mit der Rechten ein begütigendes Zeichen:

      »Es ist doch alles ganz einfach«, sagte er ohne Stimmaufwand, doch jede Silbe scharf absetzend, damit sie sich in den dumpfen Verstand der Masse einbohre: »Zwei Vorschläge sind gemacht worden. Sie schreiben uns die beiden einzigen Wege vor, die wir gehen können. Andre Wege als diese beiden gibt es für uns nicht. Der eine, Pastor Nokhudians Weg, führt mit den Saptiehs nach Osten, der andere, Gabriel Bagradians Weg, führt mit unseren eigenen Waffen auf den Damlajik. Jedem von euch steht es völlig frei, den seinen zu wählen, wie es ihm Verstand und Wille vorschreibt. Zu reden gibt es darüber nichts mehr, denn alles Richtige ist schon gesagt worden. Ich will euch die Entscheidung sehr einfach machen. Pastor Harutiun Nokhudian wird die Güte haben, sich dort auf den freien Hof jenseits der Hanfschnur hinzustellen. Wer die Ansicht des Pastors teilt, wer in die Verbannung gehn will, der möge zu ihm treten. Wer aber auf Seite Gabriel Bagradians ist, der soll dort stehen bleiben, wo er steht. Niemand beeile sich! Wir haben Zeit.«

      Tiefe Stille plötzlich. Nur Frau Nokhudians schnelles, fast bellendes Weinen war hörbar. Der alte Pastor senkte den Kopf unter dem runden Käppchen. Eine schwere Gedankenlast schien seinen Oberkörper niederzubeugen und zu Boden zu ziehen. In dieser Denkhaltung verblieb er sehr lange. Dann begannen sich seine Beine zu regen. Er stapfte mit kleinem, zögerndem Tritt zu der Stelle, die Ter Haigasun ihm bezeichnet hatte. Die Hanfschnur hob er mit ungeschickter Geste über den Kopf. Der Wirtschaftshof erstreckte sich fast bis zur Villa. Nur ein Rasenstück mit einer Wand von Magnoliensträuchern lag dazwischen. Der große Hof war völlig menschenleer. Nicht nur die Dienerschaft des Hauses, auch die Stalleute drängten sich in der Versammlung.