»Selig sind die Toten, die alles schon hinter sich haben.«
Hier ging das erstemal ein unbeschreiblicher Wehelaut durch die Menge. Kein Aufheulen, sondern ein langes singendes Stöhnen, ein hinschwellender Seufzer, als seufze nicht der Mensch, sondern die leidende Erde selbst auf. Arams Wort schwang scharf über dem Wehelaut:
»Auch wir wollen den Tod so schnell wie möglich hinter uns haben! Deshalb werden wir unsre Heimstätten verteidigen, damit wir alle, Männer, Frauen, Kinder, einen raschen Tod finden!«
»Warum Tod?«
Die Stimme kam aus Gabriel Bagradians Mund. Ein Licht tief in ihm fragte, während er sich hörte: Bin ich das? Sein Herz ging ruhig! Die beklommene Anwandlung war vorüber, für immer. Große Sicherheit stieg in ihm auf. Die Muskeln waren entspannt. Mit all seinem Wesen wußte er: Für diese Minute jetzt lohnt es sich, gelebt zu haben. Immer, sooft er mit den Leuten der Dörfer gesprochen hatte, erschien ihm sein armenisches Wort gekünstelt und gequält. Nun aber sprach nicht er – und dies gab die große Ruhe –, sondern die Macht, die ihn hierhergeführt hat auf den langen Umwegen der Jahrhunderte und auf dem kurzen Umweg seines eigenen Lebens. Er lauschte mit Verwunderung dieser Kraft, die aus ihm so natürlich ihre Worte holte:
»Ich habe nicht unter euch gelebt, meine Brüder und Schwestern ... Es ist wahr ... Ganz entfremdet war ich der Heimat und wußte nichts mehr von euch ... Da hat mich aber, wohl um dieser Stunde willen, Gott aus den großen Städten des Westens hierhergeschickt in das alte Haus meines Großvaters ... Und jetzt bin ich nicht mehr ein Halbfremder und Gast unter euch, denn ich werde dasselbe Schicksal haben wie ihr ... Mit euch werde ich leben oder sterben ... Die Behörde wird mich weniger verschonen als irgendeinen anderen, ich weiß es ... Meinesgleichen haßt und verfolgt sie mit größter Rachsucht ... Wie ihr alle bin ich gezwungen, das Leben meiner Angehörigen zu verteidigen ... Deshalb habe ich schon seit mehreren Wochen alle Möglichkeiten, die uns bleiben, genau durchforscht ... Seht her, der ich anfangs mutlos war, nun bin ich es nicht mehr ... Voll von Hoffnung bin ich ... Wenn uns Gott hilft, werden wir nicht sterben ... Ich spreche nicht als leichtsinniger Narr zu euch, sondern als ein Mann, der den Krieg erlebt hat, als Offizier ...«
Immer klarer bildete sich Wort um Wort. Die leidenschaftliche Arbeit der letzten Tage kam ihm zugute. Die Fülle wohlüberlegter Einzelfragen gab ihm immer mehr innere Festigkeit. Die Überlegenheit systematischen Denkens, wie er es in Europa gelernt hatte, hob ihn hoch über die dumpfen und ergebenen Häftlinge des Verhängnisses. Ein ähnlich spielerisches Machtgefühl hatte ihn in seiner Jugend beherrscht, wenn er bei Prüfungen auf eine Frage mit erschöpfendem Wissen zu antworten verstand, gleichsam wählerisch in diesem Wissen grabend. Er ging auf Arams verzweifelte Rede ein, ohne sie zu erwähnen: Den Saptiehs auf den Straßen und in den Häusern der Dörfer Trotz zu bieten, sei ein unsinniges Beginnen. In den ersten Stunden könne es vielleicht zu einem überraschenden Erfolg führen, desto sicherer aber ende es dann nicht mit einem raschen, sondern mit einem ausgedehnten Martertod, sowie mit der Vergewaltigung und Verschleppung der jungen Frauen. Er, Bagradian, sei ebenfalls für Verteidigung bis zum letzten Blutstropfen. Dafür aber gebe es bessere Plätze als das Tal und die Dörfer. Er wies mit der Hand in die Richtung des Musa Dagh, der sich hinter dem Hause aufbaute und mit seinen Kuppen übers Dach schaute, als nähme er teil an der großen Versammlung. Alle möchten sich der alten Geschichte erinnern, in denen der Damlajik den verfolgten Armeniersöhnen Zuflucht und Schutz geboten habe:
»Um den Damlajik wirklich zu belagern und zu erobern, bedarf es einer großen Truppenmacht. Dschemal Pascha braucht seine Truppen gewiß zu einem andern Zweck, als um ein paar tausend Armenier auszuheben. Mit den Saptiehs werden wir aber leicht fertig. Den Berg zu verteidigen, genügen einige hundert entschlossene Männer und ebenso viele Gewehre. Diese Männer und diese Gewehre haben wir.«
Er hob seine Hand wie zum Schwur:
»Ich verpflichte mich hier vor euch, die Verteidigung so zu führen, daß unsere Frauen und Kinder länger vor dem Tode bewahrt bleiben als in der Verschickung. Wir können uns mehrere Wochen, ja Monate halten. Wer weiß, vielleicht gibt es Gott bis dahin, daß der Krieg zu Ende ist. Dann werden wohl auch wir erlöst sein. Wenn der Friede aber nicht kommt, so haben wir doch noch immer das Meer im Rücken. Zypern mit seinen englischen und französischen Kriegsschiffen ist nahe. Dürfen wir denn nicht hoffen, daß eines dieser Schiffe einmal an der Küste vorüberfährt und von unseren Hilferufen und Signalen erreicht wird? Sollte aber keiner dieser Glücksfälle eintreten, sollte Gott unseren Untergang beschlossen haben, so wird es zum Sterben immer noch Zeit genug sein. Und dann werden wir uns nicht selbst verachten müssen als wehrlose Hammel!«
Die Wirkung dieser Rede war durchaus nicht klar. Es schien, als erwache die Menge jetzt zum erstenmal aus ihrer Lähmung zum vollen Bewußtsein des Schicksals. Gabriel glaubte anfangs, er sei entweder nicht verstanden worden, oder das Volk verwerfe seinen Plan mit Wutgeheul. Der feste Körper der Masse fuhr auseinander. Frauen kreischten. Heisere Männerflüche hämmerten gegeneinander. Ein wogendes Hin und Her. Wo waren die gottergebenen, gramverrunzelten Bauerngesichter, wo der Schleier der Totenstille über ihnen? Ein wüster Streit schien anzuheben. Die Männer fuhren gegeneinander los, sie schrien und zerrten sich an den Gewändern, ja an den Bärten. Doch dies war weniger ein Meinungsstreit als eine tolle Entladung, eine Zersprengung des ohnmächtigen Todeswissens, die das erste Wort der Zuversicht und Energie ausgelöst hatte.
Wie? Unter all diesen Tausenden, die jetzt in ihrer entfesselten Verzweiflung durcheinanderschrien, gab es keinen, der denselben, so einfachen Gedanken in der langen Wartefrist gefaßt hatte? Einen Gedanken, der durch alte Überlieferungen so nahe lag? Mußte erst ein Fremder, ein Herr aus Europa kommen, um ihn auszusprechen? Nun, denselben Gedanken hatte unter diesen Tausenden so mancher gefaßt, doch nur wie eine untaugliche Träumerei. Auch in der heimlichsten Zwiesprache war er über keine Lippe gedrungen. Bis vor wenigen Stunden noch hatten sie sich in ihrer künstlichen Schlaftrunkenheit vorgefabelt, das große Schicksal werde gerade am Musa Dagh mit eingezogenen Krallen vorüberschleichen. Und dann, wer waren sie? Arme, verlassene Dörfler, ein ausgesetzter Stamm auf bedrängter Insel, ohne eine Stadt im Rücken. In Antiochia gab es nicht eben viele Armenier, und das waren Geldwechsler, Bazarhändler, Getreidespekulanten, demnach nicht die rechten Empörer und Kampfhelfer. In Alexandrette wiederum lebte nur eine kleine Schar von ganz Reichen, von Bankiers und Kriegslieferanten in prunkvollen Villen, ähnlich wie in Beirut. Diese angstgepeitschten Geldmagnaten dachten gar nicht an das kleine Bergvolk des Musa Dagh. Unter ihnen befand sich kein Mann vom Wuchse Awetis Bagradians, des Alten. Sie schlossen die Fensterläden ihrer Villen und verkrochen sich in die finstersten Winkel. Zwei oder drei waren, um Leben und Vermögen zu retten, zum Islam übergetreten und hatten sich dem stumpfen Beschneidungsmesser des Mollah dargeboten. Oh, die Leute oben, dort weit im Nordosten, die Bürger von Wan und Urfa, die hatten es leicht. Wan und Urfa, das waren große armenische Städte, voll von Waffen und uraltem Trotz. Köpfe gab es da, die Abgeordneten der Daschnakzagans. Sie konnten das Volk führen. Dort war es leicht, an Widerstand zu denken und ihn zu organisieren. Wer aber durfte in dem armseligen Yoghonoluk so frevelhaft denken? Widerstand gegen die Staats- und Militärgewalt? Jeder, der hier geboren war und lebte, trug für diesen Staat, den alten Erbfeind, eine mit Grauen vermischte Ehrfurcht im Blut. Staat, das war der Saptieh, der einen ohne Grund schlagen und in Haft nehmen durfte, Staat, das war der Steuerbeamte und -pächter, der in die Häuser einbrach und raubte, was ihm geeignet schien, Staat, das war die schmutzige Kanzlei mit dem Sultanbild, den Koransprüchen und dem