Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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wurden wie geheimnisvolle Lebewesen. Alle Armeniersöhne und -töchter auf dem Damlajik, bis vielleicht auf Krikor und Kilikian, hegten jetzt einen einzigen Gedanken, den Gedanken Gabriel Bagradians: Nur eine Stunde noch und dann ist die Sonne untergegangen. Im Norden knatterte salvenartiges Feuer. Hier unten aber lag Wald und Berg scheinbar im tiefsten Frieden. Manche von diesen abgekämpften Männern schlossen jetzt die Augen, um eine Weile im Stehen zu schlafen. Sie hatten dabei das sonderbare Gefühl, daß dieser gestohlene Schlummer die Zeit heimlich vorwärts- und der rettenden Nacht in die Arme treibe. Der Schläfer wurden immer mehr und mehr. Zuletzt schien von der Besatzung in den drei Gräben kaum ein Mann wach zu sein. Nur die leblos geschliffenen Steinaugen Sarkis Kilikians, des Führers, beobachteten unbeweglich den schwarzen Waldrand der Steineichenschlucht. Das Geschehnis der nächsten Minuten gehört zu jenen Rätseln, die sich wahrheitsgemäß durch nichts erklären und ergründen lassen. Zur Not könnte man die unbegreifliche Lethargie im Wesen Kilikians verantwortlich machen, jene Eigenschaft, die das Leben schon in dem elfjährigen Knaben (als er unter seiner verblutenden Mutter lag) als Selbstschutz gegen das Übermaß von Qualen auszubilden begann. Er rührte sich jedenfalls nicht, und in seine Augen kam kein anderer Blick, als aus dem Walde unten erst einzelne Infanteristen hervorzögerten, denen allmählich ganze Schwärme folgten. Kein einziger Schuß kündigte einen Angriff an. Die Türken schienen sich von der schwarzgezackten Wand der Steineichenschlucht ängstlich nicht lösen zu wollen und verlegen zu warten, bis die Gewehre der Verteidiger losgehen würden. Da dieses nicht geschah, gaben sie sich einen Ruck, es waren schon mindestens dreihundert Mann, liefen vor und warteten, hinter jedes Hindernis sich duckend, wieder auf das armenische Feuer. Ein Teil der Männer in den Gräben schlief noch immer. Andre erwachten, griffen zu ihren Gewehren und blinzelten in das lautlos huschende Bild vor ihnen. In dieser Sekunde blähte sich das Goldlicht der Abendsonne auf und zerplatzte in hunderttausend blendende Splitter und Sprengstücke. Die Halbmonde auf den Pudelmützen der Offiziere blitzten grell. Erstaunlicherweise trugen sie während dieses Kriegszuges keine Feldkappen. Die von dem prahlenden Katzengold der späten Sonne benommenen Armeniersöhne legten die Gewehre aus und starrten, befehlgewärtig, Kilikian an. Und jetzt geschah das ganz Unerklärliche. Anstatt, wie er es bisher getan hatte, ruhig das Zielaviso zu geben, die Distanz für den Rahmenaufsatz zu bestimmen und seine Pfeife an die Lippen zu setzen, stieg der Russe mit nachdenklicher Langsamkeit aus dem Graben. Die Bewegung pflanzte sich wie ein Befehl unter den Zehnerschaften fort. Teils aus müder Verwirrung, teils aus Vertrauen in die unbekannte Absicht des Führers, schwang sich ein Mann nach dem anderen über den Grabenrand. Die Türken, die sich schon bis auf fünfzig Schritte herangepirscht hatten, stutzten, warfen sich nieder. Das Herz blieb ihnen stehen. Sie erwarteten einen wütenden Gegenangriff. Doch Sarkis Kilikian stand ruhig vor dem Mittelgraben, ohne vorwärts-, ohne zurückzugehen, ohne ein Befehlswort zu rufen, ohne ein Zeichen zu geben, die Hände in den Taschen vergraben. Ehe die unglücklichen Verteidiger noch zur Besinnung kommen konnten, brüllte einer der Offiziere unten ein lang anhaltendes Kommando, und aus dreihundert Mausergewehren knatterte ein grauenhaftes Schnellfeuer gegen die erstarrten Zielpuppen oben, die sich schwarz vom lichttrunkenen Himmel des Unterganges abhoben. Binnen wenigen Atemzügen krümmte sich ein Drittel der Besatzung des Abschnitts schreiend und ächzend auf der blutigen Erde des Musa Dagh. Sarkis Kilikian stand noch immer nachdenklich erstaunt da, die Hände in den Taschen vergraben. Das türkische Blei schien ihm auszuweichen, als wäre ein Abschluß dieses einzigartigen Schicksals in offener Feldschlacht viel zu simpel und stillos. Als er dann die Hand erhob und seinen Kämpfern irgend etwas zuschrie, war es längst schon zu spät. Er wurde von der allgemeinen Flucht des Besatzungsrestes mitgerissen, die erst mittwegs bei den Steinschanzen zum Stillstand kam. Es waren vier längere, trapezförmig abgewinkelte Steinhaufen in nächster Nähe der Stadtmulde. Ehe die Flüchtigen diese Deckung erreichten, ließen sie dreiundzwanzig Tote und Verwundete zurück. Die türkische Infanterie besetzte mit unbeschreiblichem Grölen die verlassenen Gräben. Die Reserve drängte nach, die Saptiehs, die Tschettehs und zuletzt die bewaffneten Dörfler. Auch eine recht erhebliche Anzahl von mutigen Weibern war den Moslems gefolgt. Als diese hinter den Bäumen der Eichenschlucht versteckten Frauen den Erfolg der Ihren sahen, brachen sie wie wahnsinngeschüttelte Mänaden aus dem Wald, faßten einander an den Händen, bildeten eine Kette, und aus ihren Kehlen pfiff ein langes eigenartiges Schrillen, Zilgith, der uralte Schlachtruf islamischen Weibervolks. Dieser aufwühlende Schrei befreite den Teufel in den Männern. Sie kümmerten sich, wie ihr kühner Glaube es ihnen eingibt, nicht um Tod und Leben und stürzten in tollem Lauf auf die dürftigen Steinschanzen zu, ohne einen Schuß mehr abzugeben, mit blankem Bajonett.

      In diesem Unglück kamen den Armeniersöhnen mehrere Glücksfälle zu Hilfe. Als sie sahen, daß die Türken die Verwundeten mit Bajonettstichen durchsiebten und mit ihren Soldatenstiefeln zertraten, breitete sich wieder die ganze Kälte und Wachheit ihres unentrinnbaren Schicksals über sie. Steif lagen sie hinter dem Schotter und zielten ruhig und tödlich wie sonst. Zeitgewinn! Die Türken hatten die letzte überschwengliche Sonne im Gesicht, sie aber im Rücken. Ein andres Glück im Unglück war die Verwirrung, die dadurch entstand, daß die Angreifer vor den Nachbarabschnitten, ihre eigenen Offiziere überrennend, den Posten verließen und siegestrunken auf die Bresche zuströmten. Daher verließen auch die Verteidiger ihre Gräben und drängten von rechts und links der Unheilstelle entgegen. Die Folge war ein Nahkampf und Durcheinander, in dem Freund und Feind (viele Armenier trugen ja erbeutete Türkenuniformen) unkenntlich durcheinandergeschüttelt wurde, überall dröhnte die Flut in das Loch. Es dauerte blutig lange, und viele, viele Männer mußten fallen, ehe die Gegner sich entmischten und es der Überzahl gelang, die Armenier gegen die Stadtmulde vor sich herzutreiben. Bis zur Sekunde genau reichte die Zeit hin, daß Bagradian mit der völlig erschöpften Garde das Allerletzte vom Lager noch abwenden konnte. Die Türken wurden zurückgedrängt, doch nur bis zu den eroberten Gräben, die sie fest in der Hand hielten.

      Das größte Heil war aber die Nacht, und eine bewölkte, mondlose dazu, die jetzt rasch einbrach. Der Jüsbaschi konnte es nicht mehr wagen, noch einen, und zwar den entscheidenden Stoß zu führen. In der Finsternis waren die Armenier, die den Damlajik wie ihren eigenen Körper kannten, trotz ihrer vielen Toten gegen eine ganze Division im Vorteil. Der Kaimakam, durch die riesigen Verluste aufs tiefste verstört, wußte nicht recht, was er von diesem unausgenützten Sieg zu halten habe. Der Major versprach ihm hoch und heilig, er werde bis zur dritten Morgenstunde der Angelegenheit ein radikales Ende bereitet haben. Daraufhin entwickelte er in Kürze seinen neuen Kriegsplan. Bis auf kleine Scheinbesatzungen wurden die türkischen Truppen unauffällig von den Verteidigungsabschnitten zurückgezogen. Die ganze Streitmacht bezog auf der breiten Sohle der Steineichenschlucht das Nachtlager, um in der ersten Morgenfrühe bereit zu sein, aus dem eroberten Graben heraus, wie ein mächtiger Balken, das letzte unbedeutende Hindernis durchzustoßen.

      Es ließ sich aber nicht verhindern, daß die bewaffneten Dorf-Moslems als die neuen Hausbesitzer, die sie ja waren, eine Nächtigung unter eigenem Dache dem Freilager vorzogen und die Truppen verließen.

      Gegen sechs Uhr abends kam Pastor Aram Tomasian schweißbedeckt und aufgelöst in das Zelt der Frauen, stürzte drei Gläser Wasser hinunter und keuchte:

      »Iskuhi, Howsannah! Macht euch bereit! Die Sache steht nicht gut. Ich werde euch rechtzeitig abholen. Wir müssen ein Versteck irgendwo unter den Felsen finden ... Jetzt gehe ich den Vater suchen ...«

      Ohne zu Atem zu kommen, war Tomasian sofort wieder verschwunden. Iskuhi, die ihr Versprechen gehalten und sich tagsüber nicht aus dem Zelt gerührt hatte, half der jammernden Howsannah beim Aufstehen, so gut es ging, reichte dem Kind die Flasche mit der gewässerten Milch und zog dann noch mit ihrem rechten Arm die wenigen Gepäckstücke der Familie unter den Betten hervor. Plötzlich aber hielt sie mitten in der unvollendeten Arbeit inne und verließ Howsannah, ohne ein Wort zu sagen ...

      Eine Stunde nach Sonnenuntergang. Der große, mit zertretenem Gras bedeckte Altarplatz der Stadtmulde. Die Führer hatten sich nicht in die Regierungsbaracke zurückgezogen, sondern saßen vor dem heiligen Gerüst auf der Erde. Das Volk hockte in gepreßter Stille dicht um sie gelagert. Die Laubhüttengassen waren ausgestorben. Manchmal kam das Aufjammern eines Schwerverwundeten vom Lazarettschuppen als einziger Laut herüber. Man hatte einen Teil der Toten des letzten Angriffs bergen können. Sie lagen auf der Holztenne des Tanzbodens nebeneinander, von Decken und Plachen nur