Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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war spät geworden. Die angeheiterte Taufgesellschaft warf eine wildbewegte Schattenschlacht auf den Erdboden. Unzweifelhaft lag eine Rauferei in der Luft, als der lange Trommelwirbel von der Stadtmulde herüberrollte. Ein plötzliches Stillschweigen! »Die Münadirs«, sagte jemand, und ein anderer schrie: »Alarm!« Die jungen und die alten Männer erwachten jäh aus ihrer streitsüchtigen Weltvergessenheit. In langen Sprüngen stürzte alles davon und galoppierte in die verschiedenen Einteilungen. Auch Pastor Tomasian sah man in wilder Hast gegen die Stadtmulde rennen. Binnen weniger Minuten lag der Platz des Gelages leer. »Alarm«, wiederholte Gonzague nachdenklich und in dem ruhigen Braun seiner Augen glitzerten goldene Pünktchen. Der Angriff der Türken kam seinen Plänen zuvor. Diesmal würde es wahrscheinlich nicht gut ausgehen. Sollte man nicht diese Nacht benützen? Und Juliette? Apotheker Krikor konnte sich nicht allein vom Tisch erheben. Gonzague half ihm auf. Es zeigte sich, daß dem Alten auch die kranken Beine nicht gehorchten. Er wäre zusammengestürzt, wenn ihn Maris nicht vorsichtig geführt und nach Hause gebracht hätte. Krikor schien aber seinen gebrechlichen Körperzustand als einen gleichgültigen Betriebsunfall der Natur nicht weiter zu beachten, obgleich die Heimreise unendlich viel Zeit in Anspruch nahm.

      »Alarm«, fragte er leichthin, als habe er dieser Kleinigkeit nicht genug Aufmerken geschenkt und sie wieder vergessen. »Alarm«, belehrte ihn Gonzague nachdrücklich, »und einer, mit dem nicht zu spaßen sein wird!«

      Der Apotheker blieb stehen. Alle fünf Schritte schon verlor er den Atem:

      »Was geht mich der Alarm an«, keuchte er. »Gehöre ich denn zu ihnen? Nein, ich gehöre nicht zu ihnen, ich gehöre zu mir.«

      Und er beschrieb mit der zitternden Hand einen Kreis um sich selbst, als deute er damit die Größe und Geschlossenheit seiner Ichwelt an:

      »Wenn ich nicht an das Böse glaube, so gibt es kein Böses in der Welt ... Wenn ich nicht an den Tod glaube, so gibt es keinen Tod in der Welt ... Mögen sie mich ermorden, ich werde es nicht einmal merken ... Wer diesen Punkt erreicht, der baut die Welt aus dem Geiste neu!«

      Er versuchte die Hände über sein Haupt zu heben. Aber es gelang ihm nicht. Gonzague, dessen Wesensart danach strebte, ein Unheil lieber vorher zu bemerken, als es nachher nicht zu bemerken, hatte von diesen großen Worten nichts verstanden. Um jedoch dem Apotheker eine Freude zu machen, fragte er höflich:

      »Welchen alten Philosophen haben Sie jetzt zitiert?«

      Die Mandarinenmaske sah gleichgültig in die beginnende Dämmerung. Das weiße Bocksbärtchen wippte. Geringschätzig verkündete die hohe und hohle Stimme:

      »Dies hat ein Philosoph gesagt, den niemand jemals außer mir zitiert hat und zitieren wird. Krikor von Yoghonoluk.«

      Gabriel Bagradian hatte den großen Alarm angeordnet, ohne der unmittelbaren Gefahr noch gewiß zu sein. Merkwürdigerweise wurde es erst nach Sonnenuntergang klar, daß die Türken in der Orontesebene und im armenischen Tale eine unabschätzbar große Truppenmenge zusammengezogen hatten. Die reguläre Streitkraft und die Freischaren schienen so zahlreich zu sein, daß sie in den Ortschaften kein Quartier mehr fanden und unter freiem Himmel nächtigen mußten. Der weite Halbkreis von Lagerfeuern reichte fast vom Ruinensturz Seleucias bis zum äußersten armenischen Dorf, bis zu Kebussije im Norden. Nach und nach rückten die Späherpatrouillen ein und meldeten staunenswerte Dinge. Die türkischen Soldaten wären wie mit einem Schlage aus dem Boden gefahren. Doch nicht nur die Soldaten, die Saptiehs und Tschettehs, alle Moslems der ganzen Landschaft seien plötzlich mit Mausergewehren und Bajonetten bewaffnet und die Offiziere bildeten aus ihnen Abteilungen. Die Zahl der Waffenträger lasse sich gar nicht berechnen. Phantastische Zahlen machten die Runde. Wenn aber Gabriel Bagradian den viele Meilen großen Halbkreis der Lagerfeuer in Betracht zog, so mochten ihm diese Zahlen gar nicht phantastisch erscheinen. Zwei Dinge waren sicher. Der türkische Befehlshaber hatte erstens Mannschaften genug, um den Damlajik von der Südbastion bis zum Nordsattel zu belagern und zu stürmen. Und zweitens mußte er sich so übermächtig fühlen, daß er die Taktik des gedeckten Aufmarsches und plötzlichen Überfalles verschmähte. Diese Offenheit, die auf die Armenier niederschmetternd wirken sollte und wirkte, wies auf einen bestimmten »Fall« hin, den Bagradian unter dem Kennwort »Generalangriff« schon vorgesehen, ausgearbeitet und als Manöver geübt hatte. Gabriel war weit ruhiger als vor den beiden anderen Kämpfen, obgleich die Aussichten diesmal für das Bergvolk hoffnungslos standen. Nach dem ersten Alarm jagte er die Ordonnanzen in die einzelnen Stellungen, um alle Führer und die freien Zehnerschaften bei sich auf seinem Standort zu versammeln. Indessen hatten sich auch die Gewählten des Führerrats eingefunden. Von ihren erschrockenen Zügen war die Wirrnis des Weines völlig verschwunden. Gabriel Bagradian übernahm, wie es verfassungsmäßig bestimmt war, für die Stunden des Kampfes auch den obersten Befehl über das Lager. Er verfügte, daß alles frisch geschlagene Fleisch noch im Laufe der Nacht unverzüglich zubereitet werde. Zwei Stunden vor Tagesanbruch müsse der reichlichste Proviant in die Stellungen geschafft werden. Es solle ferner auch alles, was sich im Lager noch an Wein und Branntwein vorfinde, an die Kämpfer verteilt werden. Er selbst stellte alle Zehnliterkrüge des Dreizeltplatzes bis auf einen einzigen den Verteidigern zur Verfügung. (Diese Gabe war später mitschuldig an dem Märchen vom unerschöpflichen Horte der Bagradians.) Als die Gruppenführer, die Zehnerschaften, die Leute der Reserve und die Jugendkohorte angetreten waren, hielt Gabriel Bagradian eine kurze Ansprache. Er belehrte die Leute über den Kampf, der zu erwarten war, und verschwieg ihnen die Wahrheit nicht. Wörtlich sagte er:

      »Aller menschlichen Voraussicht nach haben wir nur zwischen zwei Toden zu wählen, zwischen dem leichten und anständigen des Gefechtes und dem niedrigen und furchtbaren des Massakers. Wenn wir uns dies völlig klarmachen, wenn wir mit unbeugsamer Entschlossenheit den ersten, den anständigen Tod wählen, dann geschieht vielleicht das Wunder, und wir werden nicht sterben müssen. Aber nur dann, Brüder!«

      Nun wurden die neuen Einteilungen für den »Generalangriff« getroffen. Tschausch Nurhan Elleon erhielt das Kommando über den Nordsattel. Ein weiterer Befehlswechsel erfolgte, indem Gabriel Bagradian dem Russen Kilikian, wie er es vor einigen Stunden schon angedeutet hatte, den wichtigen Abschnitt oberhalb der Steineichenschlucht übertrug. Zwei gänzlich neue Kampfgruppen wurden gebildet, eine fliegende Garde und ein Komitatschi-Bann. Für letzteren sonderten Nurhan und Bagradian, eingedenk des Bandenkrieges auf dem Balkan, aus den Zehnerschaften etwa hundert der entschlossensten Männer, der besten Schützen, der gewandtesten Kletterer aus. Sie hatten sich über die ganze Talseite des Damlajik zu verteilen und längs der Aufstiege in Baumkronen, hinter Gestrüpp und Felsblöcken, in Gruben und Falten den Hinterhalt zu beziehen. Sie sollten die türkischen Angriffskolonnen zuerst ruhig vorüberlassen; dann aber diese vom Rücken her und womöglich von mehreren Seiten schlagartig unter heftiges Feuer nehmen, ohne Munition zu sparen. Jeder Komitatschi bekam zwölf Magazine, also sechzig Patronen ausgefolgt, unter den gegebenen Umständen eine überwältigend reiche Munition. Bagradian war übrigens, was die Munition im allgemeinen betrifft, ausnehmend großmütig. Da die kommende Schlacht zweifellos die Entscheidung brachte, sah er keinen Grund, zu geizen, und behielt von den alten, den erbeuteten und den neu gefüllten Patronen nur einen unbeträchtlichen Rest in den Verschlägen zurück. Den Franktireurs setzte er die Aufgabe in seiner logischen und einfachen Art auseinander, so daß jeder der jungen Leute bis zum Grund verstand, worum es ging: den feindlichen Anmarsch verwirren und aufhalten! Keinen Augenblick in Ruhe sein, sondern den Rücken des Feindes unausgesetzt belästigen, besonders dann, wenn er zum Angriff vorgehen will! Und das Hauptgesetz wie immer: Jede Kugel ein Toter! Nach dem Komitatschi-Bann wurde die fliegende Garde aus den Zehnerschaften ausgehoben. Gabriel Bagradian verkleinerte die Besatzung der Südbastion, die durch ihre starken Verteidigungswerke so gut wie uneinnehmbar war, auf die notwendigste Kämpferzahl. Die Lücken ließ er durch Reservisten auffüllen. So wurden etwa hundertundfünfzig Gewehre für seine Garde frei, die er selbst führte und mit der er überall dort eingreifen wollte, wo der Kampf ungünstig stand. Ein großer Teil dieser Stoßtruppe wurde auf den Eseln des Lagers, der leichten Beweglichkeit wegen, beritten gemacht. Die Reitesel dieser Gegend sind keine störrisch langsamen Gesellen, sondern für alle Gangarten abgerichtet. Die beiden Gruppen der Jugendkohorte, die Ordonnanzen und ein Teil der Späher, hatten sich der Garde immer an die Fersen zu heften, damit die ausstrahlenden Verbindungen aller Abschnitte mit dem Hauptkommando