Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
Скачать книгу
Vorbereitung er nun während der beiden ersten Nachtstunden in großer Ruhe durchführte. Zuletzt musterte er noch die gesamte Reserve. Sie bekam den Befehl, bei Sonnenaufgang die Stadtmulde zu verlassen. Die eine Hälfte wurde für die einzelnen Stellungen als Ersatzmannschaft bestimmt, die andre Hälfte sollte den langen Streifen der Hochfläche beziehen, die zwischen dem östlichen Bergrand und der Lagerstadt lag. Dieser Streifen, der an mancher Stelle, wie zum Beispiel vor dem Steineichenschlucht-Abschnitt, nur tausend Schritt schmal war, bildete eine äußerst gefährdete Zone. Hier sorgten nur einige Schanzen, oder besser regellose Steinhaufen, für die Abriegelung der Stadtmulde gegen einen feindlichen Ansturm. Nachdem Gabriel Bagradian auch der Reserve ihre große Pflicht eingeschärft und ihr dargelegt hatte, daß sie den letzten Wall gegen die unausdenklichste Frauenschändung und Kindermetzelei vorstelle, blies Nurhan Elleon auf seinem Kornett mit stotternder Erbitterung irgendwelche Fetzen aus dem türkischen Zapfenstreich. Dies war der Befehl zum Schlafengehen. Gabriel begab sich daraufhin zu den Haubitzen, wo er die Nacht zubringen wollte. Er hatte mit Hilfe Nurhans ein paar der klügeren Leute für den Artilleriedienst notdürftig ausgebildet. Vor Mitternacht rückte das letzte Kundschafterpaar ein. Sein Bericht brachte nichts Unbekanntes. Als einzige Neuigkeit erfuhr Bagradian nur, daß vom Dach seiner Villa die Halbmondflagge wehe, daß im Hofe eine Menge Pferde zusammengekoppelt seien und Offiziere ein und aus gingen. Es war demnach klar, daß sich im Hause Bagradian das Hauptquartier der Türken befand. Gabriel wartete auf den späten Aufgang des Mondes. Dann begann er, auf der Karte bedachtsam mit dem Zirkel Entfernungen zu messen und Berechnungen anzustellen. Da der dicke, aufgeblähte Vollmond ziemlich viel Licht verbreitete, gelang es ihm, einen Hilfszielpunkt anzuvisieren und danach die Richtelemente der beiden Geschütze zu ermitteln. Die Mannschaft der Batterie mußte die Geschoßverschläge nahe heranschleppen. Es waren noch fünf Schrapnells und dreiundzwanzig Granaten vorhanden. Bagradian ließ die Hälfte dieser Geschosse hinter dem Sporn jeder Haubitze aufreihen. Dann ging er von einem Geschoß zum andern und tempierte es mit dem Klammerschlüssel im Scheine seiner Taschenlaterne. Während dieser Arbeit tauchte Iskuhi auf. Er bemerkte sie zuerst gar nicht. Iskuhi rief ihn leise an. Da nahm er sie an der Hand und ging mit ihr ein Stückchen weit fort, bis sie allein waren. Sie setzten sich unter einen Arbutusstrauch, der über und über voll roter Beeren stand, die im leblosen Mondlicht die stumpfe Farbe von Siegellacktropfen hatten. Iskuhis Worte kamen gepreßt und befangen:

      »Ich möchte dich nur fragen, ob es dich nicht stören wird, wenn ich mich morgen in deiner Nähe aufhalte ...«

      »Nichts auf der Welt tut mir wohler als deine Nähe, Iskuhi ...«

      Er unterbrach sich, dachte nach und preßte ihre Hand gegen seine Wange:

      »Und doch, es würde mich nicht nur stören, sondern peinigen, dich in Gefahr zu wissen.«

      »Die Gefahr ist überall, wo wir sind, Gabriel. Ein paar Stunden früher oder später, das ist doch gleichgültig ...«

      »Hast du nicht gerade morgen die Pflicht, bei Howsannah und dem Kindchen auszuharren? Wer kann sagen, was bis zum nächsten Abend hier geschehen sein wird?«

      Ihr schwacher Körper streckte sich voll entschlossener Festigkeit:

      »Wer kann sagen, was bis zum nächsten Abend hier geschehen sein wird? Gerade deshalb erkenne ich keine andere Pflicht mehr an, als ... Howsannah und das Kind haben damit nichts zu tun. Sie sind mir gleichgültig.«

      Gabriel beugte sich dicht über Iskuhi, um in ihre Augen einzudringen, die ihm groß entgegenschmolzen. Ein seltsamer Gedanke durchzitterte ihn. Vielleicht war das, was ihn jetzt zu ihr hinzog, keine gewöhnliche Liebe, nicht das, was ihn noch immer mit Juliette verband, sondern weit mehr und auch weniger als Liebe. Er fühlte all seine Sinnen- und Seelenkräfte gesteigert und glückselig gemacht, ohne daß ihn Begehren ablenkte. Vielleicht war es die unbekannte Liebe der Blutsverwandtschaft, die ihn durch Iskuhis Blick wie ein mystisches Quellwasser erquickte, nicht der Wunsch, eins zu werden in der Zukunft, sondern die Gewißheit, in der Vergangenheit eins gewesen zu sein. Er lächelte in ihre Augen hinein:

      »Ich habe gar keine Todesgefühle, Iskuhi! Es ist verrückt, aber ich bringe es nicht im entferntesten fertig, mir vorzustellen, daß ich morgen nicht mehr leben könnte. Ich halte das für kein schlechtes Vorzeichen. Und du, was meinst du?«

      »Der Tod muß doch kommen, Gabriel. Es gibt doch gar keinen anderen Ausweg für uns ...«

      Er hörte den Doppelklang aus ihren Worten nicht heraus. Eine unglaublich sichere Fröhlichkeit entfaltete sich in ihm:

      »Man soll nicht zu weit denken, Iskuhi! Ich denke an nichts als an den morgigen Tag. Mit dem Abend beschäftige ich mich nicht. Weißt du, daß ich mich eigentlich auf morgen freue?«

      Iskuhi erhob sich, um nach Hause zu gehen:

      »Ich wollte von dir nur ein Versprechen haben, Gabriel. Etwas, das auf der Hand liegt. Wenn es soweit sein sollte und keine Hoffnung mehr besteht, bitte, dann erschieße mich und dich! Es ist die beste Lösung. Ich kann ohne dich nicht leben. Doch ich möchte auch nicht, daß du ohne mich lebst, keinen Augenblick! Darf ich mich also in deiner Nähe aufhalten morgen?«

      Nein! Sie mußte ihm das Wort geben, daß sie sich während des Tages nicht aus dem Zelt fortrühren werde. Er aber gab ihr das Wort, daß er sie, wenn alles verloren sei, zu sich rufen oder holen werde, um mit ihr zu sterben. Er lächelte bei diesem Versprechen, denn in seiner Seele glaubte tatsächlich nicht die leiseste Regung an das Ende. Deshalb auch fürchtete er für Juliette und Stephan nichts. Als er aber die Arbeit bei den Geschützen wieder aufnahm, wunderte er sich selbst über seinen Lebensglauben, den die furchtbarste Wirklichkeit von allen Seiten im drohenden Halbkreis höhnisch widerlegte.

      Der Kaimakam, der Jüsbaschi aus Antakje, der rothaarige Müdir, der Bataillonskommandant der aus Aleppo gesandten vier Kompanien und zwei andere Offiziere hielten nach Sonnenuntergang im Selamlik der Villa Bagradian Kriegsrat. Das Empfangszimmer erstrahlte im vollen Kerzenlicht wie bei Juliettens Notabeln-Abenden. Die Offiziersdiener räumten die Reste der Mahlzeit ab, welche die Herren in diesem Salon eingenommen hatten. Durch die offenen Fenster drangen Trompetensignale und die Feierabendgeräusche einer rastenden und menagierenden Truppe. Da man bei diesen Teufelsarmeniern auf unvorhergesehene Streiche gefaßt sein mußte, hatte der Kaimakam für das Hauptquartier eine Bedeckungsmannschaft angefordert, die nun den Park, den Obst- und Gemüsegarten des Hauses durch ihr Zeltlager verwüstete.

      Die Beratung der Offiziere und Beamten dehnte sich schon ziemlich lange aus, ohne daß eine volle Übereinstimmung erreicht worden wäre. Es handelte sich um nichts Geringeres als um die Frage, ob die angeordnete Erstürmung des Damlajik im Morgengrauen wirklich gewagt werden sollte. Der Kaimakam mit der mißvergnügten Hautfarbe und den schwarzbraunen Augensäcken war innerhalb dieses Kriegsrates die zögernde und widerstrebende Persönlichkeit. Er begründete seine unentschlossene Haltung mit dem Umstand, daß der Etappengeneral von Aleppo auf Wunsch des Wali zwar ein ganzes Infanteriebataillon gesandt habe, daß aber die versprochenen Maschinengewehre und Gebirgskanonen nicht eingetroffen seien. Der Kolagasi (Stabshauptmann) aus Aleppo erklärte dieses Versäumnis damit, daß diese Waffengattungen allesamt mit den abkommandierten Divisionen aus Syrien verschwunden seien und daß sich in ganz Aleppo kein Maschinengewehr finde. Der Kaimakam gab den Herren zu bedenken, ob es nicht vorteilhafter wäre, mit der Aktion noch einige Tage zu warten und Seine Exzellenz Dschemal Pascha telegrafisch um Überlassung der notwendigen Angriffswaffen dringend zu ersuchen. Die Offiziere aber hielten diesen Vorschlag für unmöglich, da die Umgehung der Instanzen den unberechenbaren Dschemal erbittern und zu einem Gegenstreich aufreizen könnte. Der Jüsbaschi aus Antakje schob den Stuhl zurück und nahm einen Zettel zur Hand. Seine Finger zitterten, weniger, weil er erregt, als weil er ein Kettenraucher war:

      »Effendiler«, begann er mit einer leisen und heiseren Stimme, »wenn wir auf Artillerie und Maschinengewehre warten wollen, so bleibt uns nichts übrig, als hier zu überwintern. Mit dergleichen sieht es bei der Feldarmee so schlecht aus, daß wir uns mit unseren Ansprüchen nur lächerlich machen würden. Ich werde mir erlauben, dem Kaimakam die Stärke unserer Truppen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen ...«

      Ohne jede Betonung las er die Zahlen von seinem kleinen Zettel ab:

      »Vier