Iskuhi wollte gerade aufbrechen, um Mairik Antaram zu suchen, als die drei Parzen ohne Anmeldung sich in das Zelt drückten. Im Dunkel glühte das regungslose Violett ihrer Gesichter auf. Die beiden Frauen Tomasian waren sprachlos. Doch sie erschraken nicht über die Erscheinungen – wer in Yoghonoluk kannte diese Altweiber nicht –, sondern über den Totenpomp, den sie noch nicht abgelegt hatten. Nunik, die den abergläubischen Sinn dieses Erschreckens sogleich erfaßte, beruhigte die Frauen:
»Töchterchen, es ist eine gute Vorbedeutung, wenn wir so kommen. Dann bleibt der Tod hinter uns.«
Als erste ärztliche Handlung zog Nunik den Sis hervor, einen dünnen Eisenstab, mit dem das Tonirfeuer geschürt wird, und begann auf die Innenwände des Zeltes große Kreuze zu zeichnen. Iskuhi schaute gebannt:
»Warum zeichnest du diese Kreuze?«
Ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen, erklärte Nunik den Zweck der Kreuze. Um das Gemach einer Kreißenden versammeln sich alle Geistermächte der Welt, die bösen jedoch zahlreicher als die guten. Wenn das Kind zur Welt kommt, ja sooft während der Wehen sein Köpfchen aus dem Schoße stößt, werfen sich die bösen Mächte darauf, um es ganz und gar zu durchdringen. Jeder Mensch bekommt darum rettungslos etwas ab von ihnen. Deshalb auch schlummert in jedermanns Herzen heimlich die Besessenheit. Der Teufel hat folglich teil an allen Menschen, und einzig Jesus Christus, der Erlöser, war kein vom Teufel Gerittener. Nach Nuniks Meinung bestand nun die höchste Kunst der Geburtshilfe darin, diesen Anteil des Teufels zu verringern. Die Kreuze dienten gleichsam als Absperrungsmaßnahme, als mythische Quarantäne. Iskuhi erinnerte sich ihrer Verschickungsträume, Nacht für Nacht. Da lag ein ausgepichter Satan über ihr, das Kaleidoskopgesicht. Und auch sie versuchte mit ihrer freien Hand große Kreuze ins Nichts zu zeichnen, um ihn zu bannen, besonders dann, wenn sich ihr Körper seiner Macht ergeben wollte. Oh, für wieviel Angst in dieser Welt mußte Christus, der Heiland, allsekündlich in Bereitschaft sein. – Nuniks Weisheit war damit aber noch lange nicht zu Ende. Sie erklärte den gebannten Frauen, wie den einzelnen Eingeweiden, insbesondere dem Herzen, der Lunge, der Leber, ganz bestimmte dämonische Wesenheiten entsprächen, die sich in den Vollbesitz jener Organe zu setzen suchten. Der ganze Geburtsakt sei in der Hauptsache ein Ringkampf von übernatürlichen Gegnern um die Parteizugehörigkeit des Kindes. Je heftiger dieser Kampf hin und her tobe, um so schwerer entwickle sich die Geburt, um so langwieriger die Wehen. Deshalb müsse eine kluge Kindsmutter die alterprobten Hilfen und Finten anwenden, die ihr Nunik übermittle. Der Säugling werde dann die ersten gefahrvollen Tage wohl überstehen. Und auch der künftige Mensch sei hinfort gut ausgerüstet für die großen Schicksalswenden seines Lebens, in denen sich der Geburtskampf immer wiederholt. Nunik entledigte sich ihrer Verkündigungen in einem weichen eingelernten Singsang, der mit altarmenischen Worten untermischt war. Iskuhi verstand diese Worte nicht, obgleich sie in der Missionsschule von Marasch die klassische Sprache ihres Volkes ein wenig gelernt hatte. Nachdem der erste Schreck vorüber war, wirkte die Anwesenheit der drei bemalten Wehmütter merkwürdig wohltuend, ja einschläfernd. Howsannah schlief auch wirklich ein und schien es nicht zu bemerken, daß Wartuk mit einer dünnen langen Seidenschnur ihre Handgelenke verband und mit einer zweiten Schnur die Gelenke ihrer Füße. Nunik aber trat nahe ans Bett und ermahnte sie:
»Je länger du geschlossen bleibst, um so länger bleibt deine Kraft geschlossen. Je später du dich öffnest, um so mehr Segen wird in dich eingehen und aus dir kommen.«
Die kleine vierschrötige Manuschak hatte indessen vor dem Zelt ein kleines Reisigfeuer entzündet. Darin hitzte sie zwei glatte Steine, die Brotlaiben ähnelten. Dies war eine höchst verständige Zaubertätigkeit, denn die heißen Steine sollten, in Tücher gewickelt, den ermatteten Leib der Gebärenden wärmen. Mit diesem sachlichsten Teil der magischen Kurpfuscherei, einschließlich des Fencheltees, den Manuschak auf dem Feuer bereitete, hätte auch Bedros Hekim einverstanden sein müssen. Dennoch sträubten sich die spärlichen Haare Altounis vor Wut, als er seine Erzfeindinnen bei der Patientin antraf. Mit jugendlicher Gelenkigkeit hob er den Stock und prügelte die Klageweiber von hinnen, während seine schartige Stimme ihnen Schmeicheleien nachrief, unter denen das Wort »Aasgeier« noch die mildeste war.
Man sieht demnach, daß Doktor Bedros Altouni ein sehr hitziger Vertreter der westlichen Wissenschaft war. Hatte ihn Awetis Bagradian, der Stifter, nicht ausbilden lassen und fünf Jahre lang sein Leben und seine Studien an der Universität zu Wien ermöglicht, damit er die Leuchte der Vernunft hochhebe über den Irrwahn des Volkes? Und hatte Bedros die von ihm beschworene Bedingung dem Wohltäter nicht treulich erfüllt, seine Praxis bis zum Tode in Yoghonoluk auszuüben und aus den armseligen sieben Dörfern bei Suedja nicht zu weichen? Ist vielleicht jemand des Glaubens, daß die Erfüllung dieses Eides und die unverrückbare Treue ein leichtes Opfer gewesen sei? Nicht zehn-, sondern dreißigmal lockte die ehrenvollste Verführung. Die Gemeindeverwaltung von Antakje hatte ihm öfters die günstigsten Anträge gemacht, ebenso Alexandrette, ja selbst die Großstadt Aleppo. Er besaß Anträge mit eigenhändiger Unterschrift von Wali und Kaimakam, in denen ihm das amtliche Physikat in der Kasah in Aussicht gestellt wurde, wenn er die elenden Nester an der Küste verlasse. Im ganzen Reiche war kein menschliches Wesen so gesucht, so hoch mit Gold aufgewogen wie ein Arzt, der das Diplom einer europäischen Hochschule sein nannte. Solche Männer besaßen den größten Seltenheitswert. Bedros Hekim hätte schon seit Jahren ein steinreicher Herr sein können, Hausbesitzer in Aleppo oder Marasch, geehrt von Stambul bis Deïr es Zor, Vorstand von zehn