Die systemische Beratung baut auf modernen Konzepten systemtheoretischer Wissenschaft auf, die mittlerweile Eingang in alle Disziplinen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften gefunden haben (Rotthaus 2016). Sie ermöglicht es, komplexe Zusammenhänge menschlichen Lebens zu beschreiben und angemessen (komplexitätsgerecht) zu charakterisieren. Es geht ihr primär um die Stärkung von Ressourcen und Kompetenzen. Deshalb wird sie als ressourcen- oder lösungsorientierte Beratung bezeichnet. Das geschieht durch eine beobachtende und simultan reflektierende Haltung des Beraters. Seine daraus gewonnenen Erkenntnisse und die Rückmeldung an das System (den Klienten) regen dazu an, neue Perspektiven zu entwickeln, Veränderungsprozesse in Gang zu setzen und Lösungswege zu finden. Dabei greift der Berater auf eine passende Methodik zurück.
Die systemische Perspektive betrachtet in jedem System die Beziehungen der Elemente untereinander als eine Wechselwirkung, weil das eine das andere beeinflusst und umgekehrt. Deshalb geht es nicht um eine lineare Denkweise bezüglich Ursache und Wirkung, sondern um Rückkopplung und Kreisläufe. Das gilt für psychische, biologische und soziale Strukturen gleichermaßen, und (empfundene) Störungen oder Disharmonien des Individuums (der Familie, Gruppe) werden als Wechsel-Wirkungs-Prozesse verstanden. Somit werden immer angrenzende Systeme und Subsysteme mit einbezogen. Auf dieser Grundlage, die das Wesen systemischer Beratung ausmacht, zeugt die Haltung des Beraters von Respekt, Unvoreingenommenheit und Wertschätzung (Allparteilichkeit) gegenüber jedem Einzelnen, und er achtet die jeweils gelebten Systemstrukturen. So wird er zum Mitkonstrukteur eines Lösungsprozesses.
Will man eine Definition formulieren, ist eine präzise Beschreibung des Denkhintergrunds wichtig, wie Ludewig sagt. Dieser Hintergrund muss vorhanden sein, soll der Begriff »systemisch« nicht verwässert werden. Ludewig (2009, S. 12) beschreibt einen solchen wie folgt:
»Systemisches Denken macht sich Grundfragen menschlicher Existenz zum Gegenstand und versucht, diese unter Rückgriff auf systemwissenschaftliche Erkenntnisse zu beantworten.«
Das menschliche Wahrnehmungssystem reagiert aufgrund seiner Erfahrungen und gelernten Muster auf innere wie äußere Einflüsse gleichermaßen. Die eigene Struktur bewirkt, dass »man sieht, was man sieht« (dieses und das nächste Zitat: ebd., S. 14 f.; Hervorh. im Orig.). Jedes Erleben ist also subjektiv und nicht übertragbar. Deshalb richtet sich auch die (kommunizierte) Erkenntnis nach der Struktur des Lebewesens und nicht nach dem Inhalt, da man allgemein »hört und versteht, was man hört und versteht«. In der systemischen Beratung geht es also in erster Linie um Kommunikation und Beziehung: Wie verstehe ich den anderen? Das ist nicht immer eindeutig und klar.
Für die Schulsozialarbeit bedeutet »Denken in Systemen«, Wahrnehmung, Mitteilung und Sprache von Einzelnen (und von Familien, Gruppen) aus dem Kontext des jeweiligen Systems heraus zu verstehen wie auch das Umfeld mit in den Blick zu nehmen, da Handlung und Erkenntnis aus ihm erwachsen und Ressourcen wach werden, die zu Veränderung und Lösung beitragen.
Die Praxis beruht auf methodischem Vorgehen und dieses teilweise auf der Systemtheorie, ohne die wir unser Handeln nicht begründen könnten. In Kapitel 2 wollen wir die Theorie kurz beschreiben. Wir werden herausfinden, dass es nicht um eine reine Methodenkenntnis gehen kann, sondern dass erst die systemische Haltung eine Grundlage dafür bietet, sich im Kontext des Geschehens zu bewegen – zugunsten der Beratenden mit der Sicherheit des Beraters. Es wird also Zeit, die Schulsozialarbeit klar zu positionieren und in Kooperationen mit Schulen und der Öffentlichkeit deutlich zu machen, was unter systemisch und damit unter systemischer Schulsozialarbeit zu verstehen und nicht zu verstehen ist. Die Herausforderung besteht darin, Präsenz zu zeigen, klare Strukturen zu setzen und ein systemisches Denken und Handeln als ein wesentliches Merkmal schulsozialpädagogischen Könnens zu beschreiben. Wenn dies in der Schulsozialarbeit gelingt, profitiert das Jugendhilfesystem davon, profitiert das Kooperationswesen mit Schulen davon, und nicht zuletzt entsteht ein klares Profil für die Schulsozialarbeit.
Systemisches Arbeiten in der Jugendhilfe ist nicht neu, aber auch noch nicht alt. Erst Mitte der 1980er-Jahre lassen sich in der Sozialen Arbeit zunehmend systemische Ansätze beobachten. Seitdem hat sich die systemische Praxis in der sozialen Arbeit und in Jugendhilfeeinrichtungen in unterschiedlichen Feldern bewährt, und eine reichhaltige Literatur ist entstanden. So beschreibt beispielsweise Winkelmann (2014) systemisch orientiertes Arbeiten für stationäre und ambulante Hilfen zur Erziehung als eine Möglichkeit, Fähigkeiten zu wecken, die es ermöglichen, auf Ressourcen zurückzugreifen – da etwa Selbstsicherheit als zentraler Motor für die Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen anzunehmen ist – und in ein selbstständiges Leben einzutreten. Auch Kleve (2006) spricht sich für systemisches Arbeiten aus. So versteht er es, Ansätze im Case-Management der sozialen Arbeit mit systemisch-konstruktivistischen Ansätzen zu koppeln und gründlicher als bisher Kommunikation, Verschiedenheit, Möglichkeiten und Reflexionen in den Blick zu nehmen, da es gerade in konkreten Hilfeprozessen die Klienten Sozialer Arbeit selbst sind, die am ehesten wissen, was gut für sie ist. So ist schließlich auch die systemische Kinder- und Jugendhilfe auf dem Weg, Wahrnehmungen, Beschreibungen, Analysen und Erklärungen als zirkuläre Beziehungen zwischen Berater und Klient zu betrachten und die Einheit von Beobachtung und Beobachtetem als Beobachtungssysteme zu begreifen (Ritscher 2005).
Bei alledem ist nicht außer Acht zu lassen, dass die Umsetzung einer systemischen Arbeitsweise schnell mit einer institutionellen Veränderungsresistenz und der beruflichen Sozialisation von Sozialarbeitern kollidiert (Hirte 2001). In ihrem Buch Was tun SozialpädagogInnen, und was denken sie, was sie tun? stellt Wigger (2005) Widersprüchlichkeiten fest zwischen »Tätigkeit« als einer zugeschriebenen Bedeutung und »Aktivität« als Aktion in der gelebten Praxis, und entsprechend falle es Sozialpädagogen und –pädagoginnen schwer, den eigenen professionellen Tätigkeitsbereich sprachlich zu erfassen. In der Schulsozialarbeit mag es daran liegen, dass ihr Auftrag selbst nicht konkret formuliert ist und systemisches Denken bisher weniger bedacht wurde und auch weniger Schulsozialarbeiter mit systemischer Weiterbildung in der Schule arbeiten. Wie oben beschrieben, sollte daher bei dem Bemühen, Schulsozialarbeit klar zu positionieren, unbedingt die systemisch orientierte Soziale Arbeit und Jugendhilfe mitgedacht werden, denn sie sind es, die sich auf den Weg gemacht haben und soziale Systeme in permanenter Wechselwirkung mit der Umwelt sehen, wie Lüssi (2008) die systemtheoretischen Perspektiven für die Sozialarbeit herausstellt. Vielerorts wird auf einige bekannte Methoden unreflektiert zurückgegriffen. Conen (2006) sieht in der systemischen Methodenanwendung einen kritischen Aspekt insofern, als systemisch orientierte Fachkräfte in der Jugendhilfe noch nicht ausreichend erkannt haben, dass bestimmte Denkweisen innerhalb bisheriger Prozesse und Strukturen den systemischen Grundprinzipien oftmals widersprechen. Zwar gelang es bisher zunehmend – besonders in den Hilfen zur Erziehung –, lösungsorientiert und ressourcenorientiert zu arbeiten. Dennoch wird deutlich,
»wie sehr ursprünglich systemische Methoden abgekoppelt sind von dem, was eine systemische Haltung ausmacht. Sie zeigen ein Gerippe von technizistisch angewendeten einzelnen systemischen Methoden (Methodengerippe) – bar jeder systemischen Grundhaltungen« (ebd., S. 159).
Gehen wir einen Schritt weiter, so sehen wir, dass auch in Schulen systemische Ansätze mitgedacht werden, worauf wir im nächsten Kapitel noch eingehen werden. Insbesondere greift Holtz (2008) den Ansatz von Ludewig (in 2009, S. 12–15), »Denken in Systemen«, auf und verortet ihn im Hinblick auf die Pädagogik als eine systemische Perspektive, die geeignet ist, auf Herausforderungen des gesellschaftlichen und damit auch schulischen Erziehungswandels zu antworten. Zunächst zitiert Holtz Postmann mit der Aussage, dass
»[…] die Schulen Aufgaben zugewiesen bekommen, an denen andere soziale Institutionen scheitern. Dabei wird vor allem argumentiert, dass Lehrer nicht die Kompetenz haben, als Priester, Psychologen, Therapeuten, Reformpolitiker, Sozialarbeiter, Sexberater oder Eltern zu fungieren […]. Auf diesen Gebieten unausgebildete Lehrer sind nicht besser als ineffektive soziale Institutionen; es ist eine schlichte Wahrheit,