„Aber ich werde doch hier gebraucht“, sagte der Vikar, als müsse er sich verteidigen.
„Das mag schon stimmen, Sir“, entgegnete Abby. „Und ich behaupte ja nicht, daß Sie nicht die Arbeit Gottes tun und sie gern tun. Es ist sozusagen Ihr Beruf, Sir, aber Miss Torilla ist kein Pfarrer, sondern ein junges Mädchen und noch dazu ein sehr hübsches.“
Mehr konnte Abby nicht sagen, denn Torilla kam mit einem kleinen Auflauf zurück, der auf eine reichlich große, runde Platte gestürzt war. Sie stellte die Platte vor ihren Vater, der so in Gedanken war, daß er sie überhaupt nicht wahrnahm.
Torilla warf Abby einen ängstlichen Blick zu, doch die Haushälterin ließ sich nicht beirren. Sie wechselte die Teller und drückte dem Vikar resolut einen Vorlegelöffel in die Hand.
Augustus Clifford sah erst auf den Löffel, dann hob er den Blick und ließ ihn von Abby zu Torilla schweifen
„Sie haben recht, Abby“, sagte er schließlich. „Torilla muß einmal hier raus und andere Leute sehen. Das Geld werden wir schon irgendwie aufbringen.“
Von dem Auflauf probierte er nur einen knappen Löffel voll. Erst als er das Haus wieder verlassen hatte, konnte Torilla mit Abby reden.
„Du hast Papa dazu überredet, Abby“, sagte das junge Mädchen. „Ich fühle mich jetzt richtig schuldig. Er wollte das Geld, das er jetzt für mich ausgibt, doch den Coxwoods zukommen lassen.“
„Diese Coxwoods haben schon viel zu viel von deinem Vater gekriegt“, sagte Abby zornig. „Diese Frau ist eine Heulsuse, und der Vikar glaubt ihr in seiner Gutmütigkeit jedes Wort.“
„Ich weiß, Abby, aber Papa hat es hier auch wirklich schwer. Das Elend der Menschen macht ihn krank. Wenn wenigstens die Kinder nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen würden!“
Sie stieß einen Seufzer aus.
„Vielleicht ist es wahnsinnig egoistisch von mir“, fuhr sie fort. „Wenn ich hier bleibe und Papa das Geld den Coxwoods gibt, dann ist vielleicht wenigstens einer Familie geholfen.“
„Und wenn hundert Coxwoods verhungern“, sagte Abby mit Bestimmtheit, „du fährst zu deiner Kusine.“
„Aber ich sollte Papa vielleicht nicht allein lassen.“
„Du wirst diese Einladung annehmen, Torilla“, sagte Abby streng. „Und jetzt setz dich hin, beantworte den Brief und schreibe deiner Kusine, daß du am Montag losfährst.“
„Aber, Abby, das ist ja schon übermorgen.“
„Je früher, desto besser“, sagte Abby. „Und wegen deines Vaters brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich kümmere mich schon um ihn, das weißt du.“
„Auf dich hört er viel mehr als auf mich“, meinte Torilla und lächelte. „Ich hätte ihn nie dazu bringen können, sich noch Fleisch zu nehmen. Er hat zwar nichts gesagt, aber ich glaube, es hat ihm richtig gut geschmeckt.“
„Diese Hammelkeule reicht uns bis Ende der Woche“, sagte Abby. „Dein Vater braucht mehr Fleisch. Wenn er satt ist, macht er sich nicht so viele Sorgen um die Armen und Kranken.“
Torilla wußte, wie weh es ihm tat, dieses Elend täglich mit ansehen zu müssen. Aber er war nicht der Einzige, der litt. Auch ihr krampfte sich das Herz zusammen, wenn sie sah, wie kleine Kinder in den Bergwerken arbeiten mußten und ausgepeitscht wurden, wenn sie weinten oder einschliefen. Der Erfolg war erschütternd. Frauen von dreißig waren alt, verbraucht und meistens von irgendeiner Krankheit befallen. Sie konnte es verstehen, daß die Männer in ihrer Verzweiflung ins Gasthaus liefen und ihr Elend in Bier ertränken wollten.
In dieser trostlosen Gegend hatten die Menschen nicht einmal das Existenzminimum, und fast täglich brachte Torilla kranken Frauen und Kindern, die nie genug zu essen bekamen, einen Topf Suppe. Aber sie hatte ja selbst so wenig. Wenn Abby ihrem Vater nicht von Zeit zu Zeit ein paar Shilling für einen billigen Stoff abbetteln würde, müßte Torilla in genauso ausgewaschenen, immer wieder zusammengeflickten Kleidern herumlaufen wie die Frauen der Bergarbeiter.
Es gab herzlich wenig einzupacken, aber trotzdem verbrachte Abby den darauffolgenden Tag mit Waschen und Bügeln. Torilla besaß ein paar Kleider, die noch von ihrer Mutter stammten, elegante Kleider, die sie hier nie hatte tragen können.
Wahrscheinlich waren sie völlig außer Mode, aber nicht einmal das wußte Torilla mit Bestimmtheit, denn das Geld reichte kaum zum täglichen Leben, also war nicht daran zu denken, auch nur einen Penny für ein Modejournal auszugeben.
Aber Torilla machte sich keine Gedanken über ihr Äußeres, denn sie wußte, daß Beryl so großzügig sein würde, wie sie es immer gewesen war.
Und so verließ sie am Montagmorgen in einem einfachen Hemdblusenkleid das Pfarrhaus. Der Umhang, den sie über die Schultern geworfen hatte, war schon fadenscheinig, doch das kümmerte sie nicht weiter. Dafür war das Strohhütchen, das noch aus der Garderobe ihrer Mutter stammte, um so flotter.
„Eigentlich solltest du ja nicht allein reisen“, sagte Abby, während sie auf die Postkutsche warteten.
„Ach was - ich bin doch kein kleines Kind mehr“, entgegnete Torilla lächelnd. „Außerdem gibt es keine andere Möglichkeit.“
„Und daß du mir nicht mit Fremden sprichst!“ ermahnte Abby das junge Mädchen. „Und noch etwas, was ich dir sagen wollte…“
„Was denn?“ fragte Torilla.
„Während der letzten zwei Jahre hast du in einer seltsamen und für ein junges Mädchen höchst unpassenden Welt gelebt. Nichts als Schmutz, Elend und Leid um dich herum. Was ich dir also noch sagen wollte - sprich nicht so viel darüber, wenn du mit Lady Beryl, also ich meine, wenn du mit deiner Kusine zusammen bist.“
„Warum denn nicht?“ fragte Torilla.
„Weil die Menschen so etwas nicht hören wollen. Sie wollen sich über fröhliche Sachen unterhalten und nicht über traurige.“
Abby überlegte einen Moment.
„Weißt du noch, was deine Mutter immer zu deinem Vater gesagt hat?“ fragte sie schließlich. „, Sei doch etwas fröhlicher’, hat sie immer gesagt, ,du kannst dir nicht alle Sünden dieser Welt auf die Schultern laden.’“
Torilla lächelte.
„Ja, ich erinnere mich daran“, entgegnete sie. „Und Papa hat dann immer gefragt, ob er denn langweilig sei.“
„Genau“, sagte Abby zufrieden. „Und seit dem Tod deiner Mutter ist dein Vater ziemlich verdrießlich, und das mögen andere nicht.“
„Das finde ich nicht, Abby.“
„Ich habe ja auch gesagt, daß die anderen es nicht
mögen, Torilla. Und deshalb sollst du vergessen, was du hier alles gesehen und erlebt hast, und sollst wieder so fröhlich sein, wie du es zu Hause immer warst.“
In den blauen Augen des jungen Mädchens leuchtete es plötzlich auf.
Abby wußte, daß Torilla an früher dachte. Wie glücklich sie doch alle gewesen waren in dem Pfarrhaus mit seinem hübschen kleinen Garten... Mitten in einem sauberen Dorf hatten sie gewohnt, umgeben von zufriedenen Menschen.
„Versprichst du mir das?“ fragte Abby.
„Daß ich niemand langweilen werde?“ fragte Torilla. „Natürlich verspreche ich dir das. Ach, Abby! Wenn du doch mitkommen könntest! Wenn jemand Erholung verdient hätte, dann du.“
„Wenn ich weiß, daß du glücklich bist und endlich wieder einmal eine andere Umgebung siehst, ist das Erholung genug für mich.“
In diesem Augenblick kam die Postkutsche um eine Biegung.
„Da ist sie!“ rief Abby. „Ich