Um seiner Frau einen Gefallen zu tun, hatte ihn der Graf von Fernleigh als Vikar in seinen kleinen Sprengel von Fernford geholt, und so war es gekommen, daß Torilla und Beryl zusammen auf dem Besitz in Hertfordshire aufgewachsen waren. Für die beiden Kusinen war dieses Arrangement sehr erfreulich gewesen, und die Tatsache, daß Beryl zwei Jahre älter war als Torilla, hatte nie etwas ausgemacht. Torilla war die weitaus klügere der beiden jungen Mädchen, und wenn jemand im Unterricht hinterher gehinkt war, dann nicht sie, sondern Beryl.
Da die Gräfin von Fernleigh fast das ganze Jahr über in London gelebt hatte, hatte Beryl mehr Zeit mit ihrer Tante als mit ihrer Mutter verbracht. Sie hatte Mrs. Clifford geliebt, und als diese eines kalten Winters völlig unerwartet gestorben war, war sie fast ebenso untröstlich gewesen wie Torilla.
Durch den Tod der Mutter hatte sich Torillas Leben völlig geändert. Ihr Vater hatte nur eine Möglichkeit gesehen - das Haus zu verlassen, in dem er mit seiner Frau so glücklich gewesen war. Er hatte nicht mehr in der ruhigen Landgemeinde arbeiten wollen, wo es im Grunde wenig zu tun gab. Deshalb hatte er um Versetzung in eine der ärmsten Gegenden des Nordens gebeten und war zwei Monate nach dem Tod seiner Frau nach Barrowfield berufen worden.
Alles war so schnell gegangen, daß Torilla kaum begriffen hatte, welche Veränderung sich anbahnte, bis sie sich plötzlich in einer völlig fremden Umgebung wiederfand und nur noch Abby hatte, an die sie sich in ihrem Unglück klammern konnte. Für Augustus Clifford hatte die Veränderung Ablenkung von seinem Kummer und vor allem die berufliche Erfüllung gebracht, die er letztlich sein ganzes Leben lang gesucht hatte. Von dem Wunsch getrieben, Menschen zu helfen, die weniger begütert waren als er selbst und von sehr sozialem Denken beseelt, hatte er sich mit aller Kraft auf die Probleme und Schwierigkeiten gestürzt, denen er im Elend dieser Bergbausiedlung begegnet war.
In seinen Bemühungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen seiner Gemeindemitglieder wäre Augustus Clifford ohne Schlaf und ohne Essen geblieben, hätten nicht Torilla und Abby dafür gesorgt, daß er einen gewissen Rhythmus einhielt.
Jeder Pfennig seines spärlichen Gehalts und des geringen Privatvermögens, den er erübrigen konnte, wurde für wohltätige Zwecke ausgegeben. Sie hätten gehungert, hätte nicht Abby darauf bestanden, genug Haushaltsgeld zu bekommen, sobald das Gehalt überwiesen war.
Als sie sich jetzt an den Eßtisch setzten, wußte Torilla, daß die Hauptschwierigkeit darin bestand, von ihrem Vater das Geld für die Reise zu bekommen.
„Ich habe heute einen Brief von Beryl erhalten, Papa“, sagte sie, als sich der Vikar gerade ein Glas Wasser eingoß und Abby den Hammelschlegel brachte.
„Von Beryl?“ fragte Augustus Clifford, als sei ihm dieser Name kein Begriff.
„Beryl heiratet bald, Papa. Sie fragt, ob ich nicht kommen und ihr bei den Vorbereitungen helfen kann. Außerdem soll ich Brautjungfer werden.“
„Ach, Beryl!“ rief der Vikar und machte sich daran, das Fleisch aufzuschneiden.
„Du hast doch nichts dagegen, Papa, oder?“ fragte Torilla.
„Nein, nein, natürlich nicht“, entgegnete Augustus Clifford. „Aber ich glaube kaum, daß wir es uns leisten können.“
„Wenn ich mit der Postkutsche fahre“, sagte Torilla, „und Abby hier bleibt - sie muß ja hier bleiben, damit sich jemand um dich kümmert -, dann wird es nicht so teuer.“
Anfangs hatte sie gehofft, Abby mitnehmen zu können, doch jetzt wußte sie, daß es unmöglich war. Nicht nur wegen des Geldes, sondern vor allem, weil ihr Vater allein nicht zurechtkam. Abby schaffte weitaus besser als sie, den Vater dazu zu bewegen, etwas zu essen und genügend zu schlafen.
„Ich hatte mir vorgenommen“, sagte der Vikar, „jeden roten Heller, den wir abknapsen können, Mrs. Coxwood zukommen zu lassen. Sie erwartet das neunte Kind, und ihre älteste Tochter hat die Schwindsucht.“
„Die Coxwoods tun mir von Herzen leid, Papa“, entgegnete Torilla, „aber du weißt so gut wie ich, daß Mr. Coxwood jeden Freitagabend in der Wirtschaft sitzt und den halben Wochenlohn vertrinkt.“
„Ich weiß, ich weiß“, sagte Augustus Clifford, „aber der Mann hat es auch nicht leicht. Kein Wunder, wenn er ab und zu ein Glas trinkt.“
„Und seine Kinder verhungern läßt“, fügte Torilla hinzu.
„Die zweite Tochter wird diesen Monat fünf, und ich glaube, sie wollen sie zum Arbeiten ins Bergwerk schicken.“
„Oh nein!“ rief Torilla. „Das ist ja grauenvoll. Weißt du noch, wie schlecht es der kleinen Barnsby gegangen ist? Wenn ein Kind den ganzen Tag im Schacht bis zu den Waden im Wasser steht, ist es aber auch kein Wunder, wenn es Lungenentzündung bekommt.“
Der Vikar stieß einen tiefen Seufzer aus. „Sie müssen wenigstens kräftig essen, Torilla.“
„Und Sie ebenfalls, Sir“, sagte Abby, die gerade ins Eßzimmer zurückkam. Sie stellte zwei Schüsseln auf den Tisch. Eine mit Kartoffeln, die andere mit Kohl.
„Ich habe genug hier“, sagte Augustus Clifford und sah auf das winzige Stück Fleisch, das auf seinem Teller lag.
„Ich nehme diese Hammelkeule nicht vom Tisch, Sir, bis Sie nicht anständig gegessen haben.“
Abby hatte den liebevoll strengen Ton einer Kinderfrau angenommen, die mit einem widerspenstigen Zögling spricht.
Der Vikar schnitt sich noch zwei hauchdünne Scheiben Fleisch ab und legte sie auf seinen Teller.
Nachdem Abby so lange gewartet hatte, bis sich der Vikar auch noch Kartoffeln und Kohl aufgetan hatte, wartete sie, bis Torillas Teller leer war.
„Bist du so lieb, Torilla, und holst mir den Auflauf aus dem Rohr?“ sagte sie dann.
„Ja, gern“, antwortete Torilla.
Abby gab ihr die Fleischplatte, und Torilla ging damit in die Küche. Sie wußte, daß Abby sie hinausgeschickt hatte, um allein mit dem Vikar sprechen zu können.
Sie war noch kaum aus dem Zimmer, als Abby auch schon tief Luft holte. „Miss Torilla hat Ihnen doch gesagt, Sir“, begann sie, „daß sie nach Fernleigh Hall eingeladen worden ist.“
„Ja, das hat sie mir gesagt“, entgegnete der Vikar. „Aber leider wird sie nicht fahren, weil wir es uns nicht leisten können. Auch die Postkutsche kostet Geld, und bis Hertfordshire ist es ein weiter Weg.“
„Aber es wird höchste Zeit, Sir - wenn Sie mir die Offenheit verzeihen -, daß Miss Torilla endlich wieder einmal unter anständige Menschen kommt.“
Augustus Clifford sah erstaunt hoch, und Abby sprach weiter, ehe er zu Wort kommen konnte.
„Ist Ihnen eigentlich klar“, fuhr sie fort, „daß Miss Torilla nun schon fast zwei Jahre hier ist und kaum ein Wort mit einer Lady oder einem Gentleman gewechselt hat? Ihre Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüßte, wohin das arme Mädchen geraten ist. Jawohl - das ist die Wahrheit.“
Der Vikar runzelte die Stirn. „Das habe ich mir noch gar nicht überlegt, Abby“, sagte er.
„Aber ich habe es mir überlegt, Sir. Miss Torilla ist achtzehn, und wenn ihre Frau noch am Leben wäre, Sir - Gott sei ihrer Seele gnädig, dann würde sie sich nach einem passenden Mann für Miss Torilla umsehen. Sie würde Feste für sie geben und Freunde ihres Alters einladen.“ Abby seufzte verächtlich. „Und was für Leute könnten wir hier einladen?“ fragte sie. „Abgerissene, schmutzige Kerle, denen der Kohlenstaub in den Haaren hängt.“
Der Vikar wollte etwas sagen, kam aber nicht zu Wort.
„Ich weiß, ich weiß, Sir, auch sie haben Seelen, die gerettet werden müssen, sind Christen und in den Augen Gottes nicht anders als wir. Aber Sie erwarten doch nicht, daß Miss Torilla einen Bergarbeiter heiratet, oder?“
Augustus Clifford zuckte verlegen mit