Ich fragte ihn genauer aus, als es sonst meine Gewohnheit, mit der Absicht, mich zum Beherrscher seiner Halluzinationen zu machen. In dieser Art des Verfahrens liegt, wie ich jetzt einsehe, eine gewisse Grausamkeit. Ich wünschte ihn wieder bis auf die Spitze des Wahnsinnes zu treiben, eine Sache, die ich sonst vermeide wie den Schlund der Hölle (und unter welchen Umständen würde ich den Abgrund der Hölle nicht vermeiden?) Omnia Romae venalia sunt.1 Auch die Hölle ist käuflich. Wenn etwas hinter diesen Einbildungen steckt, ist es wert, dass man es genau verfolgt, ich hatte also alle Ursache so zu verfahren, deshalb –
R. M. Renfield, Alter 59. Sanguinisches Temperament. Große körperliche Kraft, krankhaft reizbar; Perioden des Wahnsinns auf der Basis einer fixen Idee, der ich nicht auf die Spur kommen kann. Ich schicke voraus, dass sein sanguinisches Temperament im Zusammenwirken mit äußeren störenden Einflüssen seelisch erschöpfende Anfälle auslöst. Vielleicht ein gefährlicher Mann, wahrscheinlich gefährlich, wenn sein Dämmerzustand eintritt. Bei normalen Menschen ist die Vorsicht ein ebenso sicherer Schutz gegen sich selbst wie gegen Feinde. Was ich über die Sache bis jetzt denke, ist, dass, wenn sein Selbstbewusstsein im Mittelpunkt steht, die zentripetalen und die zentrifugalen Kräfte sich die Waage halten; wird aus irgend einem Grunde dieser Mittelpunkt verschoben, so überwiegen die letztgenannten Kräfte und es kann nur ein Anfall oder eine Reihe von solchen einen Ausgleich schaffen.
1 »Omnia venalia Romae«, Latein. »Alles (ist) käuflich in Rom.« – Einschätzung des Königs Jugurtha in »Sallusts De bello Iugurthino« 8, 1. <<<
Brief von Quincey Morris an Herrn Arthur Holmwood.
25. Mai.
Lieber Arthur!
Wir haben uns am Lagerfeuer in den Prärien lange Geschichten erzählt und einer dem anderen Wunden verbunden, als wir einen Landungsversuch auf den Marquesas1 machten, und wir haben uns an den Ufern des Titicaca2 zugetrunken. Es gilt, noch mehr Geschichten zu erzählen, sowie andere Wunden zu verbinden und auf ein anderes Wohl zu trinken. Wollen wir das nicht an meinem Lagerfeuer morgen Abend besorgen? Ich lade Dich ohne weiteres ein, weil ich weiß, dass eine gewisse Dame morgen Abend zum Diner eingeladen ist, Du also frei bist. Noch einer wird dort sein, unser alter Spießgeselle aus Korea, Jack Seward. Er wird sicher kommen, und wir beide wünschen, unsere Tränen über dem Weinglase zu mischen und von ganzem Herzen auf das Wohl des glücklichsten Mannes unter der Sonne zu trinken, der sich das edelste Herz gewann, das Gott je schuf. Wir versprechen Dir ein herzliches Willkommen, eine liebenswürdige Begrüßung und ein Prosit, so ehrlich wie Deine eigene rechte Hand. Wir schwören Dir, dich nach Hause zu schicken, wenn Du, einem gewissen Paar schöner Augen zu Ehren, zu tief in das Glas geschaut haben solltest. Also komm!
Dein auf immer
Quincey P. Morris
1 Die Marquesas-Inseln (franz.: Archipel des Marquises) gehören geografisch und politisch zu Französisch-Polynesien. Sie liegen 1.600 Kilometer nordöstlich von Tahiti, südlich des Äquators im Pazifischen Ozean. <<<
2 Der zu Peru und Bolivien gehörenden Titicaca-See in den südamerikanischen Anden. <<<
Telegramm von Arthur Holmwood an Quincey P. Morris.
26. Mai.
Rechne jedenfalls auf mich. Ich bringe Euch Neuigkeiten, die Eure beiden Ohren klingen lassen sollen.
Art.
Mina Murrays Tagebuch
24. Juli. Whitby. Lucy holte mich am Bahnhofe ab; sie sah süßer und lieblicher aus als je, und wir fuhren zusammen nach dem Hause am Crescent,1 wo sie Zimmer bewohnen. Es ist ein reizendes Fleckchen Erde. Der kleine Fluss, der Esk,2 kommt durch ein tiefes Tal herunter, das sich in der Nähe des Hafens erweitert. Ein großer Viadukt führt darüber hinweg, mit hohen Steinpfeilern, durch welche sich eine entzückende Aussicht auf die Landschaft eröffnet. Das Tal ist lieblich grün und so tief eingeschnitten, dass man von den Hängen aus nicht heruntersehen kann, wenn man nicht bis direkt an den Rand tritt, während man sonst einfach darüber hinwegschaut. Die Häuser der alten Stadt – auf der anderen Seite – sind alle mit roten Ziegeln gedeckt und übereinandergeschachtelt, wie wir es auf Gemälden von Nürnberg sehen. Gerade über der Stadt liegt die Ruine der Abtei Whitby, die von den Dänen zerstört wurde und in der der Teil von »Marmion«3 sich abspielt, in dem das Mädchen eingemauert wird. Es ist eine sehr schöne Ruine von ungeheurer Ausdehnung und voll von herrlichen, romantischen Plätzchen; es geht die Sage, dass sich öfter in den Fenstern eine weiße Frau sehen lasse. Zwischen dem Kloster und der Stadt befindet sich noch eine Kirche, die Pfarrkirche, um die sich ein ausgedehnter Friedhof mit vielen Grabsteinen ausbreitet. Meiner Ansicht nach ist es der reizendste Fleck von ganz Whitby; denn er liegt direkt über der Stadt und gewährt volle Aussicht auf den Hafen und die Bucht, in die sich die Kettleness4 genannte Landspitze weit hinauserstreckt. Die Böschung ist so steil, dass schon Stücke heruntergebrochen sind, wodurch eine Anzahl Gräber zerstört wurden. An einer Stelle besonders hingen die Grabsteine weit hinaus über den sandigen Fußweg tief unten. Es führen Spazierwege mit Bänken zu beiden Seiten durch den Friedhof. Den ganzen Tag sitzen und gehen hier Leute, genießen die herrliche Aussicht und freuen sich des kräftigen Seewindes. Ich werde sehr oft heraufkommen und mich mit meiner Arbeit hier niederlassen. Tatsächlich sitze ich hier schon und schreibe, mein Buch auf den Knien, und höre den Gesprächen dreier alter Männer neben mir zu. Es scheint, als sei ihre ganze tägliche Beschäftigung, hier zu sitzen und zu plaudern.
Tief unter mir liegt der Hafen; auf der anderen Seite ragt eine Granitmauer weit in die See hinaus, deren Ende sich auswärtsbiegt; ein Leuchthaus steht darauf. Lange Wellen laufen an ihr entlang. Auf der Seite, gegen mich zu, macht die Hafenmauer eine Biegung nach einwärts, und ihr Ende bildet wieder ein Leuchtturm. Zwischen den beiden Piers ist nur eine schmale Einfahrt in den Hafen, die sich dann plötzlich verbreitert.
Besonders schön ist es bei Flut; aber wenn diese sich verlaufen