Etwas aber tut mir noch immer weh. Wien, Hofburg, Gottfrieds letzte Weihnachten. Da ging es ihm schon nicht mehr gut. »Erdäpfelsalat?«, fragte ich. Er nickte. Den hatte er sogar gern. Also aßen wir am Heiligen Abend Erdäpfelsalat und sonst nichts.
Vielleicht deshalb habe ich im ersten Jahr so viele Leckerbissen auf sein Grab gelegt. Und in Tottendorf in den offenen Kamin geworfen. Gänseleber, obwohl sich mir der armen Gänse wegen das Herz im Leib dabei umdrehte. Wein natürlich. Und Whisky. Ein Wasserglas. Im nächsten Moment stand das Zimmer in Flammen. Doch kehrten sie brav wieder zurück in den Kamin.
Natürlich glaube ich nicht, dass die Toten schnabulieren. Wenn ich aber mit unseren alten Freunden Arnold und Willi Keyserling trinke, und für Gottfried steht jedes Mal ein volles Glas auf dem Tisch, seufzen wir manchmal und sagen: »Hoffentlich gibt es im Jenseits einen Wein!«
BRECHTS UNGEDULDIGE GELIEBTE
Als wir Gerti, die Witwe des von Gottfried ebenso geschätzten wie geliebten Componisten Rudolf Wagner-Régeny, einmal in Ostberlin besuchten, hat sie uns diese Geschichte erzählt:
In seiner letzten Lebenszeit hatte Bert Brecht eine ganz junge Geliebte. Ihr wollte er die Rechte an seinen Theaterstücken vererben. Mit seinem Rechtsanwalt war bereits alles besprochen, das Mädchen musste nur noch zu ihm in die Kanzlei gehen, um eine Unterschrift zu leisten und das Testament rechtsgültig zu machen.
Das tat sie auch, aber das Wartezimmer des Anwalts war voll. Nein, dachte sie! Bis ich an der Reihe bin, dauert es womöglich Stunden. Lieber komme ich morgen.
Was sich erübrigte, da Bert Brecht am nächsten Tag nicht mehr lebte.
DER ZERRISSENE
Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte erzählen soll oder nicht. Aber schließlich sind alle Protagonisten schon tot, auch wenn dieses Wort für mich etwas anderes als für die meisten Leute bedeutet.
Und Göndi Liebermann hat in ihrer Autobiografie »Spannungen« selbst davon, wenn auch nicht ganz vollständig, berichtet. Ich möchte einfach den Fluch von einer der schönsten Opern unserer Zeit nehmen, und das geht nicht ohne Indiskretion.
Gottfried von Einem und Rolf Liebermann waren Freunde, die gemeinsam viel Spaß hatten und jede Menge Allotria trieben. Gottfried half Rolf beim Componieren, vor allem bei der Instrumentation, und nahm zwei seiner Opern, »Penelope« und »Schule der Weiber«, ins Programm der Salzburger Festspiele.
Als Liebermann Intendant der Hamburger Staatsoper war, schnappte er Oscar Fritz Schuh, Köln, und Gustav Sellner, Berlin, den »Zerrissenen« weg. Denn er war ganz begeistert davon, versprach mindestens fünfzig Aufführungen, und Gottfried gab die allererste gern seinem Freund. Aber dann passierte ein Unglück …
Als Gottfried gerade seine Wohltäter Conrad und Charlotte Bareiss in Zürich besuchte, verliebte Göndi Liebermann sich leidenschaftlich in ihn. Es kam, wie es kommen musste. So etwas passiert halt und verschönert ohne Zweifel jede Biografie. Leider gestand Göndi nur wenige Tage vor der Uraufführung des »Zerrissenen« ihrem rechtmäßigen Gemahl den stürmischen Fehltritt. Dieser, ganz Gentleman, verzieh und tröstete die Sünder: »Ihr Armen, was müsst ihr gelitten haben!« Und gleichzeitig berief er eine Pressekonferenz ein, in der er den »Zerrissenen« zum letzten Operndreck erklärte und sich entschuldigte, Hamburg so etwas zuzumuten.
Nicht unverständlich, aber trotzdem nicht gut. Und obwohl ich mir Rölfchen, wie wir ihn nannten, nur schwer als Schaden zaubernde Hexe vorstellen kann, ist »Der Zerrissene« seither verwunschen. Es mag sein, dass Zorn und Hass sich wie schwarze Schleier auf die funkelnde Schönheit seiner Melodien gelegt haben. Nun wartet der Verzauberte auf seine Erlösung.
Liebermann hatte sich inzwischen selbst verliebt, von Göndi getrennt und wieder geheiratet, und Gottfried hatte ihm, weil er ihn darum bat, die Direktion der Wiener Staatsoper verschafft. Angetreten hat er sie aber nicht. Wie gut ich mich noch an den Champagnerabend in der Marokkanergasse erinnere! Wir hatten den Unterrichtsminister eingeladen, und beim Dessert wurde der Vertrag ausgehandelt. Ein fabelhafter, sündteurer Vertrag. Ohne zu unterschreiben, steckte Liebermann ihn ein und flog – ich weiß nicht mehr, nach Hamburg oder Paris? –, um damit eine beträchtliche Gehaltssteigerung für sich selbst zu erpressen. Naja.
SCHÖNER WOHNEN
So oder ähnlich heißt eine Zeitschrift, und die rief eines Tages bei uns in der Nicolaigasse an. Sie wollten eine Reportage machen, und wäre es recht, wenn sie in zwei Stunden vorbeikämen? Ja, natürlich.
Wir waren gerade aus Rindlberg gekommen, und die Wohnung glich einem Schlachtfeld. Geputzt war sie auch nicht. Ich zog mein schäbigstes Gewand an und griff zu Reibtuch und Besen. Hausfrau ist nicht meine stärkste Rolle, im Gegenteil. Trotzdem blitzte die kleine Wohnung zwei Stunden später vor Sauberkeit, dafür war ich schmutzig. Als es klingelte, öffnete ich die Tür und zeigte stolz auf mein Werk. Doch schien keiner sich dafür zu interessieren.
O Gott! Auf mich, schmierig, schmuddelig und hochrot von der Anstrengung, richtete sich die Kamera. Der Gegenstand der Reportage war ich. Oder wäre ich vielmehr gewesen. Denn nach einer peinlichen Musterung durch das Team erklärte die Redakteurin: »Wenn es Ihnen lieber ist, Frau Ingrisch, kommen wir ein anderes Mal.«
Und sie kamen nie wieder.
EDMUND HLAWKA
Wenn Mathematiker seinen Namen hören, bekommen sie einen verzückten Blick und raunen ehrfürchtig: »Gleichverteilung!« Er ist nämlich von allen Mathematikern unser größter, hat fünf Ehrendoktorate und seine Vorlesungen in Stanford, Princeton, am CALTECH, der Sorbonne und so weiter gehalten. In Wien natürlich auch, denn er ist ein steirischer Erdberger aus dem dritten Bezirk.
Physiker und Astronom ist er ebenfalls, und unlängst hat man sogar einen Planeten nach ihm benannt. »Aber nur einen kleinen«, drosselt der viel zu bescheidene Professor die Ehre des Hlawka-Planeten. Ich bin stolz darauf, zu seinen Freunden zu zählen. Noch dazu hat er mir eine mathematische Arbeit über die Zeit gewidmet, jenem Thema, das mich neben dem Tod am meisten fasziniert. Und eigentlich bedingt eins das andere, und beide existieren nur in unserem Bewusstsein. »Es gibt«, jetzt zitiere ich Gottfried von Einem, »kein Ich, keine Zeit, keinen Tod.«
Kennen gelernt haben wir einander bei einem Abendessen, das der Bundespräsident alljährlich für die höchsten Ordensträger gibt. Und für ihre Frauen natürlich auch. So wurde Edmund Hlawka mein Tischherr. Ich fragte, was er denn treibe? »Ich bin«, sagte er, »Mathematiker.« Zum Glück las ich damals gerade »Gödel, Escher, Bach« und konnte zwanglos über Gödel plaudern. Er gilt als größter Logiker nach Aristoteles, dessen Logik ich wiederum gar nicht schätze, denn A ist auch B. Jedenfalls stellte sich heraus, dass Hlawka ein Gödel-Schüler war, und zu meiner hellen Freude erzählte er nun die komischsten Anekdoten von ihm.
Inzwischen waren die Süßigkeiten verspeist und der Sekt getrunken. Man stand auf und begab sich zum Kaffee. Dankbar für die Gödel-Erinnerungen, die ich in ihm geweckt hatte, küsste der altmodische Kavalier Hlawka mir die Hand und sagte: »Wie schön Sie sind!« »Sie müssen wissen«, ertönte gleich darauf eine trockene Stimme, »mein Mann ist nämlich blind!« Verdutzt blickte ich auf. Gottfried war gerade mit seiner Tischdame zu uns gestoßen, die keine andere war als Hlawkas Ehefrau Rosa. Und tatsächlich litt Edmund damals gerade an grauem Star. Rosa war auch Mathematikerin, und so lustig! Wir wurden fast sofort Freunde.
Als wir vier einander zum letzten Mal im Café Griensteidl trafen, lachte sie nicht mehr. Sie lächelte nur und war merkwürdig still. Wir wussten