III
Es war am Abend nach dem Begräbnis.
Da begab sich folgendes:
Die leidtragenden Fischer und Lotsen, die so altertümlich in ihren weit abstehenden, schwarzen Gehröcken und den unförmigen, pudligen Zylindern aussahen, waren nach einem reichlichen Leichenschmaus abgezogen. In dem Stübchen, in dem der Kranke so lange gelegen, blieben nur seine beiden Ältesten zurück, um in einem alten Rollpult nach Papieren zu suchen, die der Verstorbene vielleicht hinterlassen. Es sollte eine Verschreibung des Magistrats auf eine Pension vorhanden sein.
Wenigstens hatte sich oll Kusemann während des Leichenschmauses bei einem Glase Kirschlikör urplötzlich darauf besonnen.
Wenn das wirklich ausnahmsweise kein Geflunker war! Wenn das Wahrheit wäre! —
Fast ohne zu sprechen suchten die beiden.
Das Fenster stand offen. Man wollte auslüften. Unterdes befanden sich die andern Trauernden auf dem Hofe hinter dem Häuschen.
Es war ein kleiner, ungepflasterter Hof. Rings herum ein Bretterzaun, an dem rote Johannisbeersträucher in die Höhe rankten. In der Mitte ein niedriges, grünmoosiges Rohr, die Pumpe. Ganz in der Ecke, auffallend niedrig, mit Moos und Schindeln gedeckt, ein Stall für drei Kühe und daneben, nicht größer als eine Hundehütte, ein hölzerner Schweinekoben.
Aus ihm drang Schnuppern und Schnaufen den ganzen Tag. Auf dem schrägen Dach jenes Kobens saßen an diesem Abend Hann und Line.
Beide in ihren schwarzen Traueranzügen.
Der Junge ungeschlacht, wie ein verzauberter kleiner Schornsteinfeger; das Mädchen vornehm, wie die Prinzessin, die den Schweinehirten heiratet.
In dem Kuhstall aber weilte noch ein anderes Paar. Ein älteres. Hier saß die Witwe, die kleine Frau Klüth, mit ihrem vergrämten Gesicht auf einem Schemel und verrichtete langsam und trauervoll ihr abendliches Werk. Sie melkte ihre wohlgenährten, glänzenden Kühe.
An der Schwelle, leicht an den Pfosten angelehnt, sah Dietrich Siebenbrod, gleichfalls im Trauerrock, diesen Geschäften nachdenklich zu.
Er hatte eine kleine Pfeife in der Hand. Aber er rauchte nicht. Er hielt das in diesen Augenblicken für unschicklich.
Ein wundervoller Herbstabendglanz lag auf dem Fischerdörfchen.
Bäume und Dächer leuchteten einen unbestimmten matten Schimmer. Am Himmel zogen lichtrosige Wolken dahin. Rosig durchleuchtet ringelte sich Rauch aus den Schornsteinen. Überall tiefe Ruhe. Nur vom Bodden strich ab und zu ein leichter Windzug daher, und dann sah man fern durch die Bäume und Büsche, wie die See draußen ihre Farben änderte.
Ein Jagen von Grün und Zitterblau!
Dann wieder Stille.
Da regte sich Line auf dem Koben.
»Sprich was,« sagte sie zu Hann und stieß ihn leicht an den Arm. »Es ist so häßlich, das Stillsein.«
Sie fürchtete sich heimlich. Denn ununterbrochen, klammerfest wurde sie von diesem einen Bilde gefangengenommen, wie die Lotsen den Sarg heruntergelassen, die Erdklumpen hohl daraufgekollert, und wie oll Kusemann hinter ihr, scheinbar absichtslos, die Worte geflüstert: »Sieh, wenn die letzte Handvoll drauf liegt, dann macht sich die Seele auf ihren Weg.«
»Ja, dann macht sie sich auf den Weg,« ging es ebenfalls durch Hanns Gedanken, denn auch er hatte, ohne daß Line davon wußte, die Worte oll Kusemanns wohl vernommen.
Und zum erstenmal — an dem dunklen Grab — regte sich bei dem blöden Jungen, dem das Lernen versagt war, eine nachdenkliche Frage.
Jetzt sprach er sie aus. Langsam und stockend in den lichten Abend hinein, während unter ihm die Schweine schnüffelten und ganz nahe die Milch in den Eimer klatschte.
»Lining,« begann er, »hast gehört, was oll Kusemann sagte? — Weißt du, was 'ne Seel' is?«
»Nein — laß,« versetzte die Kleine ängstlich und zog an ihrem Kleid. »Aber oll Kusemann meinte ja vorgestern, sie säh' grau aus.«
»Ja, grau sieht sie aus,« nickte der Junge schwerfällig, »denn irgend 'ne Farb' muß sie haben. Schweine sehen gelb aus und Rosen rot, und Seelen werden dann woll grau sein.«
»Vaters Seel' is nu im Himmel«, — sagte Line geheimnisvoll. »Sieh, da oben, wo die rote Wolke geht, da oben sitzt er gewiß und sieht zu, wie hier das Vieh gefüttert wird. Das hat er sonst ja auch immer gemacht. — Meinst du nicht, daß er's da oben gut hat?«
»Das hat er,« bestätigte Hann ernsthaft.
»Woher weißt du das?« fragte Line rasch.
Hann rückte eine Weile hin und her, als getraue er sich nicht recht. Dann beugte er sich vor, warf einen spähenden Blick in den Kuhstall hinein und schob sich endlich ganz dicht an Line heran, so daß die beiden Köpfe sich eng berührten.
Sonst ließ ihn Line nie so nahe heranrücken, ohne die Hand gegen ihn zu erheben.
»Ich weiß, daß er's gut hat,« brachte der Junge scheu hervor und seufzte, als wenn ihn ein Geheimnis drücke. »Aber sieh, du mußt es Paul nicht sagen.«
»Was denn, Hann?«
Wieder ein schwerer Atemzug, dann rasch: »Ich hab neulich in den Himmel reingekuckt.«
»Du?«
»Ja, ich.«
»Womit?«
»Oll Kusemann hat in seinem Wetterhaus ein Rohr. Damit kann er in den Himmel kucken. Und da hat er es mir auch gezeigt.«
»Hann — Hanning, und was hast du da gesehn?«
»Lauter Glänzendes, das so hin und her zieht, und dann solche grauen Punkte, die fliegen überall herum. Das sind die Seelen. Oll Kusemann hat es mir ganz genau erklärt.«
»Hann —«
Line zögerte einen Moment. Dann schlang sie ihren Arm in den seinen. Die Frage war zu wichtig.
»Hast du auch den lieben Gott gesehn?«
Hann zögerte und seufzte wieder.
Es fiel ihm zu schwer.
»Hann, was tat der liebe Gott?«
»Line — ich darf nicht drüber sprechen. Oll Kusemann hat es mir direkt verboten. Aber« — er wälzte sich seine Last ab — »du sollst es wissen. Der liebe Gott sitzt an einem großen goldenen Tisch und um ihn herum lauter graue Seelen.«
»Und was machen sie da?«
»Da essen sie Mittag.«
»Mittag? Jemine, essen die da oben auch?«
»Jawoll — — die Schüsseln und Gläser hab' ich genau erkannt. Oll Kusemann sagt, die wären all' von Sonnenschein.«
Line starrte ihn an.
»So schön is es da oben?« fragte sie endlich. Begierig hob sie die Augen zu den großen roten Flecken empor, die sich allmählich silbern ränderten.
Es wurde immer dunkler. — Plötzlich schrie Line auf.
»Line, was is?«
»O da oben!« rief sie und legte schaudernd den Kopf auf das Dach des Kobens. Sie zitterte.
Deutlich hatte sie den alten, toten Lotsen geschaut, wie er in seinem roten Schiff über sie hinfuhr. Dabei hatte er »Line« gerufen — ganz deutlich