»Ein sonderbarer Mann!« sagte das ganze Publikum der Gegend, in welcher er wohnte, und setzte noch verschiedene andre Züge zu diesem Charakter hinzu, die vielleicht meine Leser so wenig vermuten werden, als daß sie der Großherr noch vor ihrem Tode zum Veziere machen möchte.
»Ein sonderbarer Mann!« sagte man. »Ein Mann, der sehr klug tut und nichts als alberne Sachen anfängt.«
»Es mag, fing Fräulein Amande an, als man in einer Gesellschaft über ihn zu urteilen geruhte, »es mag«, fing sie an mit einer Miene von Wichtigkeit, die ihre ganze Weisheit zu empfinden gab – »es mag nicht richtig mit ihm im Kopfe sein.«
»Hm!« versetzte Frau von Czs++ mit witzig klugem Tone, »es geht ihm wie den Leuten, die überklug sein wollen; sie laufen, wenn andre sachte gehn, und stolpern eben darum am allerersten.«
»Ach«, brüllte der Herr Xrv., »mit seiner Klugheit! Vor Überklugheit tut er gewiß nichts Albernes, eher vor Dummheit. Er gibt seinen Bauern das gute Land und behält sich die steinichten Felder. Vor ein paar Jahren, bei der Teurung, gab er ihnen das gute Korn, und am Ende mußte er sich selbst alle Tage eine Mahlzeit abbrechen, damit er sich nur das Brot kaufen konnte. – Lächerlich!«
»Können Sie sich vorstellen?« unterbrach ihn sein Nachbar. »Sie wissen, ich grenze mit ihm; Sie wissen auch von dem Streite, den ich mit seinem Vorfahren wegen des Stückchen Wiese, das dort am Busche liegt, gehabt habe. Da er das Gut bekam, so gab er mir das Stückchen Wiese, ohne weiter eine Feder anzusetzen; und sein Vorfahre hatte neun Jahre mit mir darum prozessiert. Ich bin's gern zufrieden und lache noch darüber; aber man sieht doch die Einfalt!«
»Er hat gar keinen Begriff von Melioration«, fuhr ein andrer fort. »Er ist unwissender als mein Großknecht. Den ganzen Tag liegt er über den Büchern oder bei dem Gesindel, das er ins Haus nimmt –«
»Oder in der Schenke bei den Bauern –«
»Oder gar bei den Bettelleuten«, sagte ein Vierter.
»Gleich und gleich gesellt sich gern!« rief der Herr Hauptmann V++, in dessen Gesellschaft meine Leser schon gewesen sind, rief es und lachte; und die ganze Gesellschaft erscholl auf dieses Signal von einem lauten Gelächter.
»Er ist ein Atheist«, zischelte eine Dame im Zobelpalatine.
»Er ist ein Pietist«, sagte eine andre in einem où êtes – vous.
»Ein Verschwender, der bald betteln gehen wird.«
»Ein Knicker, der sich das Nötige abdarbt.«
»Für seine Pensionärinnen!« schrie eben derselbe Herr Hauptmann mit einem so zweideutigen Tone, daß der größte Teil der Gesellschaft sich an den schlimmen Verstand des Wortes hielt und ein jedes nach Verhältnis seines Charakters ausgelassen darüber lachte oder verschämt lächelte.
28
Jeden, der die Charakteristik zu seinem Studium gemacht hat, einen Lukian, Swift, Pope, Wieland, und alle ihre Mitbrüder fodre ich auf, aus diesen Zügen einen menschlichen Charakter zusammenzusetzen. Wenn sie auch alle ihre Kräfte vereinigen wollten, so bin ich versichert, daß am Ende nichts als ein Menschenkopf an einem Pferdehalse mit einem befiederten Leibe, der sich in einen Fischschwanz verliert, auf dem Papiere stehen wird.
Armer Herr B.! – oder wie ich ihn nun meinen Lesern nach seinem wahren Namen bekannt machen will –, armer Herr Selmann! – Verloren wärest du, guter Mann! wenn die Welt dich nur aus jenem Gemälde beurteilen sollte und mit dieser Geschichte dein Porträt nicht in so gutherzige Hände wie die meinigen gefallen wäre.
Aus Liebe zur Gerechtigkeit will ich, während daß Herr Selmann mit seinen zwei Gästen nach seinem Hause geht, sein Bild unterwegs ganz von frischem zeichnen; und dann wollen wir sehen, welches getreuer ist.
Herr Selmann ist ein Mann, der neben dem scharfsinnigsten Beobachtungsgeiste den höchsten Grad von Empfindlichkeit besitzt: Man könnte beinahe sagen, daß er von beiden für unsern Erdenkreis zu viel habe. Alles, was er tut, ist daher einige Schritte mehr oder weniger über dem Gleise des gewöhnlichen menschlichen Tun und Lassens. Ideen und Empfindungen sind bei ihm höher als gewöhnlich gespannt: Wie sollen es also die Handlungen nicht auch sein? Er hat nie eine Universität gesehn und könnte auf jeder manchen Professor dethronisieren. Sein Vater, der ein Kaufmann gewesen war und sich den Adelstand erhandelt hatte, legte seine erste Erziehung gleich so an, daß er zu den wichtigern Geschäften des menschlichen Lebens gebildet wurde – Geld zu erwerben und zu vertun. Doch die Natur hatte den Absichten seines Vaters so schnurstracks entgegengehandelt und unter allen Anlagen ihm gerade die unschicklichste zu diesen Endzwecken gegeben. Seine größte Lust von den ersten Jahren an war – denken und empfinden; und in seiner denkenden oder empfindenden Laune war eine Million und eine Stecknadel für ihn von gleichem Werte. Als Knabe leerte er oft seinen Beutel in dem Schoße eines Armen aus, der ihn mit Tränen um eine Gabe bat, und noch als Mann hörte er nicht auf, es zu tun.
Aller Hindernisse ungeachtet drang sein vortrefflicher Kopf durch. Er las unermüdet, und so gleichgültig auch sein Vater ihn darüber loben hörte und so wenig er seinen Fleiß durch Ermunterungen begünstigte, so ließ er ihm doch wenigstens die Freiheit, seinen Neigungen, wiewohl mit gewissen Einschränkungen, nachzuhängen. Er las unermüdet, sagte ich, aber was? – Natürlicherweise nichts als solche Bücher, worinnen er seinen Schwung der Einbildungskraft und der Empfindung antraf, ätherische Moralen, ideale Geschichte, seraphische Gedichte – kurz, er war bei seiner ganzen Lektüre immer mit seinem Kopfe und seinem Herzen im Lande der Phantasie. Der Abstand, den er zwischen den Menschen in seinen Büchern und denen fand, die ihn täglich umgaben, machte ihm die wirkliche Welt allmählich unschmackhaft.
Sehr frühzeitig verschaffte ihm sein Vater ein Amt, das in den Händen eines jeden andern von seinem Alter und ohne seine Fähigkeiten verwahrlost worden wäre und – in den seinigen wegen seiner großen Fähigkeiten verwahrlost war.
Er hatte mit den Finanzen zu tun. Ja aber! – Auf einem Fixsterne oder einem feurigern Planeten als der unsre würde er ein vortrefflicher Finanzrat gewesen sein; mit solchem irdischen Metalle, wie unsre Könige und Fürsten es brauchen, konnte er sich nicht beschäftigen. Statt der Bestimmung seines Amtes gemäß Einnahme und Ausgabe zu vergleichen, Rechnung zu führen usw., brütete er über Entwürfen zu Projekten, die alle das Gepräge des Nachsinnens und der Menschlichkeit hatten, aber wenigstens ein paar Jahrtausend zu zeitig zur Welt kamen, wo nicht gar Iselins menschenfreundliche Träume eigentlich sogenannte Träume sind.
Was natürlich aus einer solchen Beschaffenheit erfolgen mußte – er fand keinen Menschen, weil er keinen wie er fand. Die Torheiten, die Laster der Menschen hatten bei ihm eben die frischen, hervorstechenden Farben wie die Tugenden, die er von ihnen erwartete. Das ganze Menschengeschlecht wurde ihm verächtlich und bei hinzukommenden Hypochonder beinahe verhaßt. Doch die Entfernung von den Menschen, die Landluft, Bewegung und andre Nebenumstände nahmen in der Folge diesen ganzen Ansatz zur Misanthropie hinweg, der ohnehin so gering war, daß er mehr in einem –ja, wenn ich's deutsch sagen könnte! –, in dem bestund, was wir empfinden und denken, wenn wir eine ungesalzne, wässerige Suppe wegsetzen. Die Gesellschaft der gewöhnlichen Menschen war ihm fade, unschmackhaft. Dabei war seine Menschenliebe so feurig als vorher; aber es war eine Liebe des ganzen Geschlechts und nicht einzelner Menschen, und alle Dienste, die er einzelnen Menschen erwies, tat er ihnen nur, weil sie seine Brüder waren. Weswegen ihm auch die stoische Vorstellung der Welt vor allen andern gefiel, nach welcher die sämtlichen Einwohner des Erdbodens eine Familie ausmachen und also ohne Unterschied alle verschwistert sind. Im Anfange jener misanthropischen Periode starb sein Vater, und er ließ Amt und Einnahme fahren und flüchtete auf das Land, wo er seit der Zeit, bis auf die Ankunft meines Helden in dem Gasthofe eines Dorfes, das zu seinem Gute gehörte, beständig blieb.