Auch der kleine Enno Kluge hat unterdes in dem Spiegel eines Modewarengeschäftes entdeckt, wie sein Gesicht aussieht. Das hat ihn nur noch mehr verängstigt und ganz kopflos gemacht. Er wagt keinen Menschen anzusehen, aber er hat das Gefühl, alle sehen ihn an. Er drückt sich in den Nebenstraßen herum, seine Suche nach Tutti wird immer hirnverbrannter, er weiß nicht mehr, wo sie etwa gewohnt hat, er weiß aber auch nicht mehr, wo er jetzt grade ist. Aber er geht in jeden dunklen Torgang und sieht in den Hinterhöfen an den Fenstern hoch. Tutti … Tutti …
Es wird jetzt rasch immer dunkler, vor der Nacht muss er noch rasch Quartier gefunden haben, sonst nimmt ihn die Polizei fest, und wenn die sehen, in welchem Zustand er ist, dann machen sie Hackfleisch aus ihm, bis er alles eingestanden hat. Und wenn er das von den Persickes gesteht, und er quatscht es ja doch aus in seiner Angst, dann schlagen ihn die Persickes tot.
Er läuft ziellos immer weiter, immer weiter …
Schließlich kann er nicht mehr. Er setzt sich auf eine Bank und hockt da nun, einfach nicht imstande, weiterzugehen und sich etwas auszudenken. Schließlich fängt er ganz mechanisch an, seine Taschen nach etwas Rauchbarem abzusuchen – eine Zigarette würde ihn wieder ein bisschen in Gang bringen.
Er findet in seinen Taschen keine Zigarette, aber er findet etwas, das er bestimmt nicht erwartet hat, nämlich Geld. Sechsundvierzig Mark findet er. Die Frau Gesch hätte es ihm schon vor Stunden sagen können, dass er Geld in der Tasche hat, sie hätte den kleinen, verängstigten Mann auf seiner Suche nach einer Bleibe ein wenig sicherer gemacht. Aber die Gesch hat natürlich nicht verraten wollen, dass sie seine Taschen, während er schlief, durchsucht hat. Die Gesch ist eine anständige Frau, sie hat das Geld – wenn auch erst nach kurzem Kampf – wieder zurückgesteckt. Hätte sie es bei ihrem Gustav gefunden – sie hätte es ohne Weiteres an sich genommen, aber bei einem fremden Mann, nein, so eine war sie nun doch nicht! Natürlich hat sich die Gesch von den neunundvierzig Mark, die sie gefunden hat, drei Mark abgenommen. Aber das war nicht geklaut, das war ihr gutes Recht, für das Essen, das sie dem Kluge gegeben hat. Sie hätte ihm das Essen auch ohne Geld gegeben, aber wie kommt sie dazu, einem fremden Mann, der Geld hat, umsonst Essen zu geben? So ist sie nun auch wieder nicht.
Jedenfalls stärken die sechsundvierzig Mark den verschüchterten Enno Kluge ungemein, er weiß doch nun, er kann sich immer ein Logis für die Nacht nehmen. Auch sein Gedächtnis fängt wieder an zu funktionieren. Zwar an die Wohnung der Tutti erinnert er sich noch immer nicht, aber ihm ist plötzlich eingefallen, dass er sie in einem kleinen Café kennengelernt hat, wo sie oft verkehrt. Vielleicht wissen die dort ihre Wohnung.
Er steht auf, er läuft wieder los. Er orientiert sich, wo er eigentlich ist, und als er eine Elektrische sieht, die ihn nahe an sein Ziel bringen kann, wagt er sich sogar auf die dunkle Vorderplattform des ersten Wagens. Dort ist es so dunkel und voll, dass keiner groß auf sein Gesicht achten wird. Dann geht er in das Café. Nein, er will nichts verzehren, er geht sofort an das Büfett und fragt das Fräulein dort, ob sie wohl weiß, wo die Tutti ist, ob die Tutti hier wohl noch verkehrt?
Das Fräulein fragt mit scharfer, schriller Stimme, die im ganzen Lokal zu hören ist, welche Tutti er wohl meint. Es gäb ’ne Menge Tuttis in Berlin!
Der schüchterne kleine Mann antwortet verlegen: »Ach, nur die Tutti, die hier immer verkehrt hat! So eine dunkelhaarige, ein bisschen dick …«
Ach, die Tutti meine er! Nee, von der Tutti wollten sie hier nichts mehr wissen! Die sollte nicht wagen und sich hier noch mal sehen lassen! Von der wollten sie kein Wort mehr hören!
Und damit wendet sich das Fräulein empört von Enno ab. Kluge murmelt ein paar Worte der Entschuldigung und macht, dass er wieder aus dem Café herauskommt. Er steht noch ratlos, was er nun tun soll, auf der nächtlichen Straße, als ein anderer Herr aus dem Café kommt, ein älterer Mann, ziemlich abgerissen, kommt es Enno vor. Dieser Mann geht zögernd auf Enno zu, dann gibt er sich einen Ruck, zieht den Hut und fragt, ob er nicht der Herr sei, der eben im Café nach einer gewissen Tutti gefragt hat.
»Vielleicht«, antwortet Enno Kluge vorsichtig. Warum er denn frage?
»Ach, nur so. Ich kann Ihnen eventuell sagen, wo sie wohnt. Ich kann Sie auch bis an ihre Wohnung bringen, nur müssten Sie mir auch einen kleinen Gefallen tun!«
»Was denn für einen Gefallen?«, fragt Enno noch vorsichtiger. »Ich weiß nicht, was für einen Gefallen ich Ihnen tun kann. Ich kenn Sie ja gar nicht.«
»Ach, gehen wir doch schon ein Ende!«, ruft der ältliche Herr. »Nein, es ist kein Umweg, wenn wir hier lang gehen. Die Sache ist nämlich die und der Umstand der, dass die Tutti noch einen Koffer mit Sachen von mir hat. Vielleicht können Sie mir den Koffer morgen früh schnell mal rausreichen, wenn die Tutti schläft oder auf Besorgungen aus ist?«
(Der ältliche Mann scheint für sicher anzunehmen, dass Enno bei der Tutti über Nacht bleiben wird.)
»Nein«, sagt Enno. »Das tu ich nicht. Auf solche Sachen lasse ich mich nicht ein. Tut mir leid.«
»Aber ich kann Ihnen genau sagen, was in dem Koffer ist. Es ist wirklich mein Koffer!«
»Warum fragen Sie dann die Tutti nicht selbst darum?«
»Na, wenn Sie so reden«, sagt der ältliche Herr gekränkt, »dann kennen Sie die Tutti nicht. Das ist doch ein Weib, das müssten Sie doch wissen! Die hat Haare auf den Zähnen, i wo, keine Haare, Igelborsten hat sie drauf! Die beißt und spuckt wie ein Pavian – und darum wird sie ja auch so genannt!«
Und während der ältliche Herr diese liebenswürdige Schilderung von Tutti entwirft, fällt dem Enno Kluge mit Schrecken ein, dass die Tutti wirklich so ist und dass er das letzte Mal mit ihrem Portemonnaie und mit ihren Lebensmittelkarten verschwunden ist. Die beißt und spuckt wirklich wie ein Pavian, wenn sie in Wut ist, und wahrscheinlich wird sie diese Wut sofort an Enno auslassen, wenn er jetzt ankommt. Alles, was er sich von einem Nachtquartier bei ihr eingebildet hat, ist eben nur Einbildung …
Und plötzlich beschließt Enno Kluge ganz aus dem Handgelenk heraus, von dieser Minute an anders zu leben, keine Weibergeschichten mehr, keine kleinen Stibitzereien mehr, auch keine Rennwetten mehr. Er hat sechsundvierzig Mark in der Tasche, davon kann er bis zum nächsten Lohntag leben. Morgen gönnt er sich noch einen Schontag, so zerschlagen wie er ist, und übermorgen fängt er richtig wieder mit der Arbeit an. Die werden schon merken, was sie an ihm haben, die werden ihn nicht wieder an die Front schicken. Er kann wirklich nicht nach alledem, was er in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hat, solch einen Paviansempfang bei der Tutti riskieren.
»Ja«, sagt Enno Kluge nachdenklich zu dem ältlichen Herrn. »Das stimmt: