Es mochte ja nur die übliche dörfliche kritische Einstellung dem stadtfein angezogenen Fremden gegenüber sein, ich hatte aber doch den Argwohn, dass mir vielleicht etwas von meinem Alkoholgenuss anzumerken oder etwas an meiner Kleidung nicht in Ordnung sei. Ich hatte es schon erfahren, dass eine der schlimmsten Gaben, die der Alkohol mit sich bringt, dieses Unsicherheitsgefühl ist, ob irgendetwas an einem nicht ganz stimmt. Man kann sich noch so oft im Spiegel mustern, die Kleidung abtasten, jeden Knopf nachprüfen – nie, wenn man etwas getrunken hat, ist man ganz sicher, dass man nicht doch etwas übersehen hat, etwas ganz offen Zutageliegendes, das man aber doch trotz gespanntester Aufmerksamkeit immer wieder übersieht. Im Traum hat man ganz ähnliche Gefühle, bewegt sich heiter in der gewähltesten Gesellschaft und entdeckt plötzlich, dass man vergessen hat, seine Hosen anzuziehen.
Also, dieses Angestarrtwerden wurde mir lästig, zudem fiel mir ein, dass gerade die lebhafte Mittagsstunde nicht die richtige Zeit sein würde, meine Hübsche aufzusuchen. Ich schlug einen seitab führenden Feldweg ein und warf mich unter einem schattenden Gebüsch ins Gras. Sofort verfiel ich in Schlaf, in jenen tiefschwarzen Schlaf, den der Alkohol bringt, wobei man gewissermaßen ausgelöscht ist, einen befristeten Tod stirbt. Keine Träume gibt es da mehr, keine Ahnung von Licht und Leben – fort ins Nichts! Das ist es.
Als ich wieder erwachte, stand die Sonne schon tief, ich musste vier, vielleicht sogar fünf Stunden geschlafen haben. Wie immer in dieser Zeit hatte mich der Schlaf gar nicht erfrischt, ich erwachte alt und müde, ein zittriges Gefühl in den Gliedern. Meine Knochen waren steif, als ich mich aufrichtete, und mit dem Gehen kam ich nur schwer zurecht. Ich wusste aber jetzt schon, dass das alles mit den ersten Schnäpsen, die ich zu mir nahm, sich rasch geben würde, und beeilte mich darum, in den Gasthof zu kommen.
Ich hatte die Stunde gut gewählt: Wieder einmal war die Schankstube leer, auch hinter der Theke stand niemand. Steif ließ ich mich in einen Korbsessel fallen und hallote durstig nach der Bedienung. Erst steckte sich ein Mädchenkopf durch die Türspalte, es war aber nicht meine blasse Hübsche, sondern ein zottliges, rotnasiges Wesen älterer Machart, dann sah eine dicke Frau zu mir hin, rief: »Gleich! Gleich!« und öffnete die Treppentür, die ich in jener Nacht, blind an der Hand geführt, hinaufgestiegen war.
»Elinor! Elinor! Komm runter!« rief die Wirtin, versicherte mir noch einmal, dass ich gleich bedient werden würde, und verschwand wieder in der Küche.
Also Elinor hieß sie, da hatte ich mit Elsabe nicht ganz schlecht geraten. Aber Elinor war auch sehr gut, war eigentlich noch besser. Elinor passte zu ihr. Elinor, la reine d’alcool, wirklich sehr hübsch!
Und da hörte ich sie auch schon die Treppe herunterkommen, gar nicht rehfüßig übrigens; die Tür klappte, und sie trat ein. Sie hatte sichtlich geschlafen, das Haar war nicht so glatt und ordentlich aufgesteckt wie sonst, und ihr helles Kleid hatte etwas Zerdrücktes, Unordentliches. Sie stand da einen Augenblick und sah zu mir herüber. Sie erkannte mich nicht gleich, sie musste gegen die Sonne sehen. Dann rief sie ganz vergnügt: »Ach, das ist ja nur das Väterchen, das so gern Schnaps trinkt!«, rief’s und lief schon wieder die Treppe hinauf.
Ich nahm ihr die neuerlichen, für meinen Durst eigentlich schmerzlichen Worte gewiss nicht übel, war ich doch nur froh über diesen unbefangenen Empfang. Ein bisschen hatte ich mich doch gefragt, wie sie mich nach meinem Abgang über das Schuppendach in jener Nacht aufnehmen würde. Nun aber war alles gut, und ich wartete mit Geduld die fünf Minuten, bis sie, nunmehr geschniegelt und glatt, wieder auftauchte. Sie kam gleich an meinen Tisch, bot mir wie einem alten Freund die Hand und sagte freundlich: »Ich dachte schon, Sie wollten gar nicht mehr wiederkommen! Was haben Sie denn so lange gemacht? Sind Sie nun schon ganz bankrott?«
»Noch nicht, ma reine«, sagte ich, auch lächelnd. »Vorläufig habe ich erst einmal das Geschäft meiner Frau übertragen, mit der ich übrigens in Scheidung liege. Was meinst du dazu, meine Hübsche? In acht Wochen bin ich vielleicht schon zu haben! Noch ganz gut erhalten, wie?«
Sie sah mich einen Augenblick an, dann verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht, und sie sagte ganz kühl und geschäftsmäßig: »Einen Korn, nicht wahr? Oder gleich wieder eine ganze Flasche, wie?«
»Richtig, meine Goldene!«, rief ich. »Gleich wieder eine ganze Flasche! Und für dich wiederum eine Flasche Sekt!«
»Nicht am Tage«, antwortete sie kurz und ging.
Einen Augenblick später hatte ich zu trinken, ausgiebig, von diesem wasserhellen Stoff, den ich schon mehr liebte als den Kognak. Aber sonst kam ich an diesem Nachmittag nicht auf meine Kosten. Elinor war ständig beschäftigt, in und außer der Gaststube, und wir konnten nur dann und wann ein paar Worte wechseln. Darüber verdrossen, trank ich mehr als gewohnt, schon nach anderthalb Stunden musste mir Elinor eine zweite Flasche bringen, und ich spürte selbst, dass ich schwer berauscht war.
Dann kamen ein paar junge Burschen, darunter auch jener junge Maurer, mit dem Elinor so vertraut gesprochen hatte; und bloß um das Mädchen an meinen Tisch zu ziehen (was aber auch nur für Minuten gelang), ließ ich sie alle bei mir Platz nehmen und bestellte für jeden, was er sich wünschte. Schon nach kurzer Zeit bot mein Tisch einen wilden Anblick: Bier- und Schnapsgläser, Wein- und Sektflaschen standen in einem wilden Durcheinander auf ihm, und um ihn gruppierte sich eine Rotte wild durcheinander redender, schreiender, lachender, fuchtelnder Gestalten, und ich war eine der wildesten und betrunkensten von allen. Ich fühlte mich ganz losgelassen, ich war wirklich wie ein Stein, der in den Abgrund stürzt – ich dachte an nichts mehr.
Bei unserem Lärmen hatten wir es ganz überhört, dass ein Auto vorgefahren war, und auch als zwei Herren eintraten, achteten wir kaum auf sie. Ich schrie einem Gegenüber, der gar nicht auf mich hörte, weiter irgendwelche Beteuerungen zu – und verstummte plötzlich, wie auf den Mund geschlagen, denn einer der beiden Herren, die jetzt an einem Nebentisch Platz nahmen, hatte mich mit einem freundlichen »Guten Abend!« begrüßt, und dieser Herr war Dr. Mansfeld. Den anderen Herrn kannte ich nicht.
Auch meine Zechkumpane verstummten, und auch, als sie sahen, dass nichts weiter erfolgte, sondern dass die Herren am Nebentisch, in ein Gespräch vertieft, ruhig ihr Bier tranken, kam die alte Lustigkeit nicht wieder auf. Einer nach dem anderen verdrückte sich, schließlich saß ich allein in diesem wüsten Tohuwabohu