»Sie wollten doch um neun auf Ihre Bank gehen, mein Herr«, erinnerte mich Polakowski auf seine leise, flüsternde Art. »Es ist neun.«
»Ich kann jetzt nicht gehen«, sagte ich ärgerlich. »Sie sehen doch, dass ich krank bin, Polakowski. Ich werde morgen gehen oder heute Nachmittag. Jetzt holen Sie erst den Schnaps.«
»Dann muss ich den Ring verkaufen, mein Herr«, sagte Polakowski. »Der Jude hat mir nur fünfzehn Mark drauf geben wollen; wenn ich ihn verkaufe, bekomme ich fünfundzwanzig Mark.«
»Fünfundzwanzig Mark!«, rief ich empört. »Der Ring hat neu neunzig Mark gekostet!«
»Jetzt ist es ein alter Ring, und der Jude will auch leben, Herr«, flüsterte Polakowski gleichmütig. »Wenn ich den Ring für fünfundzwanzig Mark verkaufen darf, ist der Korn sofort hier.«
»Und wie können fünfzehn Mark schon alle sein?«, rief ich erbittert. »Ein Abendessen und eine Flasche Korn – das macht doch keine fünfzehn Mark!«
»Und die Zimmermiete, mein Herr?«, fragte Polakowski einschmeichelnd. »Soll ich armer Mann gar nichts haben? Ich muss Ihnen übrigens zwölf Mark für die Stube rechnen, Herr … Ich weiß, ich weiß«, sagte er eilig und knackte wieder einmal besonders laut und ekelhaft mit seinen Gelenken. »Ich habe sieben Mark gesagt, und ich bin ein Mann von Wort. Aber Sie machen viel Wirtschaft, Herr, und Sie richten das Zimmer hin, und Sie gehen mit Kleidern und Schuhen ins Bett, das ruiniert die Wäsche! Das kostet alles Geld, und wir sind sehr arme Leute …«
»Spitzbuben seid ihr«, schrie ich wütend. »Scheren Sie sich zum Teufel, ich ziehe!«
»Sehr wohl, mein Herr«, sagte Polakowski und ging.
Aber natürlich blieb er der Sieger. Nach einer Weile stand ich, vom Durst gepeinigt, auf und ächzte die Treppe hinab und rief ihn (lange ließ Polakowski sich rufen), und ich schmeichelte ihm und gab ihm die Erlaubnis, meinen Ehering für fünfundzwanzig Mark zu verkaufen – und dann endlich, nach einer langen, langen Zeit qualvollen Wartens, bekam ich eine neue Flasche Korn und konnte wieder trinken und brechen, trinken und brechen.
So wurden aus einem Tag ein zweiter und ein dritter und eine Reihe von Tagen, und ich verließ die Stube bei Polakowski nie …
15
In dieser ersten Woche, die ich bei Polakowski zubrachte, gingen meine beiden Ringe, meine goldene Uhr und meine Aktentasche in seinen Besitz über. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Jude nur eine vorgeschobene Person und dass der eigentliche Erwerber meiner Goldsachen der »sehr arme Mann« Polakowski selbst war. Was ich dafür bekam, war lächerlich wenig. Vielleicht zwölf bis vierzehn Flaschen Schnaps, die Flasche zu vier Mark gerechnet (übrigens holte er auch immer mindere Qualitäten), und dann und wann ein wenig Essen. Denn ich aß fast gar nichts mehr.
Sah ich mich jetzt gelegentlich im Spiegel an, so betrachtete ich mit grausamer Wollust mein Gesicht, das, von alten Bartstoppeln bedeckt, gedunsen und doch abgezehrt, ja wie ausgebrannt aussah. ›So zerstört man sich selbst‹, sagte ich mir dann frohlockend. Und gleich dachte ich weiter an Magda und wie sie erschrecken würde, wenn sie mich in diesem Zustand sähe, und wie ich es ihr dann ins Gesicht schleudern würde, dass sie, sie allein die schmähliche Ursache dieser Veränderung sei!
Gesundheitlich ging es mir sehr wechselnd in diesen Tagen. An die geplante Entwöhnung dachte ich natürlich mit keinem Gedanken mehr, ich trank, soviel ich in meinen Magen bekommen konnte. Meistens streikte er, und ich hatte viel Mühe, mein Quantum in mich hineinzubekommen; zu anderen Zeiten war er aus rätselhaften Gründen willig genug, zu schlucken und zu behalten, was er bekam.
Dann hatte ich gute Stunden. Dann saß ich am Fenster, die Flasche immer dicht bei mir, ich sang leise vor mich hin, alte Volks- und Wanderlieder, und sah dabei hinaus auf die Stadt unter mir, bis zu dem Haus hin, das fern im bläulichen Dunste lag und das das Meine war. Dann dachte ich daran, was Magda jetzt wohl tun würde; und in diesen Stunden war ich fest davon überzeugt, dass ich sie liebte wie eh und je, und dass sie es war, die unsere Liebe verraten hatte. Dann malte ich mir aus, wie ich eines Tages gesund und fröhlich heimkehren würde: Irgendwie war ich auf geheimnisvolle, aber sehr rechtliche Weise in den Besitz von viel Geld gelangt, und ich machte alle glücklich, und alle bewunderten mich, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
Aus solchen kindischen Träumen erweckte mich Polakowski rau genug. Er eröffnete mir, dass es weder Schnaps noch Quartier bei ihm mehr gäbe, wenn ich nicht sofort Geld herbeischaffte …
Wir gerieten in ein endloses Gezänke, von seiner Seite immer höflich, leise, einschmeichelnd, von der meinen grob, mit jähzornigem Aufflammen und dann fast wieder in Tränen schwimmend. Aber es half mir gar nichts, dass ich ihm immer wieder vorwarf, zu welchen Wucherpreisen er meine Goldsachen an sich gebracht, wie wenig, fast nichts, er dafür geliefert; er verschanzte sich hinter seinem Juden, der eben nicht mehr geben wollte, schwor Stein und Bein, dass er noch nicht einen Pfennig an mir verdient habe, und blieb unerbittlich dabei, dass ich Geld schaffen oder ziehen müsste.
Ja, schon jetzt machte er dunkle Andeutungen, dass sich die Polizei vielleicht sehr für Personen wie mich interessieren würde, und dass eigentlich solch Wohnen ohne jede Anmeldung gar nicht zulässig sei und ihn in Gefahr bringe. Auf dieses drohende Geschwätz gab ich damals noch gar nichts, aber gewiss war es mir, dass ich Geld schaffen musste, der sanfte Polakowski war hart wie ein Kieselstein.
Das Einzige, was ich von ihm erreichte, war, dass er mir noch eine Flasche Korn »in Vorschuss« besorgte, damit ich für meine nächtliche Expedition auch »frisch« sei. Ich hatte gerade einen meiner »guten« Tage, das heißt, einen Tag, an dem mein Körper dem Alkohol gut gesinnt war; das war noch ein Glück. An einem anderen Tag hätte ich eine solche Wanderung unmöglich unternehmen können.
Dass der Weg zur Bank mir versperrt war, wusste ich: Dort hatte man bestimmt schon längst mein Verschwinden angezeigt und die Weisung gegeben, bei einem etwaigen Auftauchen von mir nichts ohne vorherige Benachrichtigung zu zahlen. Ich musste also in mein eigenes Haus einbrechen. Der Gedanke, dabei Magda zu begegnen, war mir heute, da mir eine solche Begegnung ziemlich sicher war, nicht so angenehm wie vor einer Woche, da ich von ihr nur geträumt hatte. Aber es musste sein.
Ich schob die Kornflasche in meine Hosentasche – der sanfte Polakowski hatte mir hartnäckig die leihweise Hergabe meiner Aktentasche verweigert – und machte mich auf den Weg. Es war kurz nach Mitternacht. Polakowski ließ mich aus