Und den lasst fest uns halten.
O jerum, jerum, jerum!
O quae mutatio rerum!«
Der Schlussreim des alten Studentenliedes verhallte fern auf der Nippenburger Landstraße, die der Vetter Wassertreter in so preislichem Zustande erhielt; auf den Zehen schlichen Leonhard und Lina heim, und wenn der Afrikaner nicht von der Tante Schnödler träumte, so konnte er von dem Fräulein Nikola von Einstein träumen. Der Mond ging unter zu seiner Zeit, der Maikäfertanz nahm auch sein Ende, es wurde noch einmal recht dunkel und kühl, ehe das Licht des neuen Tages kam. Durch die Natur zog mehr als ein Schauern und Frösteln, vor dem die letzten Schwarmgeister und Musikanten der ersten Sommernacht in Luft und Gezweig abfielen und vergingen oder doch scheu unterduckten und sich verkrochen.
Siebentes Kapitel
»Nun sage mir, ob diese Gegend nicht daliegt wie Goethes sämtliche Werke in vierzig Bänden?« rief der Vetter Wassertreter, mit beiden Backen kauend und mit der Spitze des aufgeklappten Taschenmessers einen weiten Halbkreis vor sich in der Luft beschreibend. Leonhard Hagebucher, noch immer schweigsam und wortkarg, nickte dem Gleichnis seine Billigung und hielt sich gleichfalls con amore an den nahrhaften Inhalt des geöffneten Schnappsacks. Es waren ungefähr acht Wochen seit den in den beiden vorigen Kapiteln beschriebenen Szenen vergangen, es war ein schöner, heiterer Morgen, und die Stunde, in welcher der gesunde Mensch, der früh aufstand, die Scheu des Leeren in hohem Maße zu empfinden berechtigt ist. Der alte und der junge Vetter saßen auf einem Haufen zerschlagenen Basalts unter einem Apfelbaum an der fürstlichen Landstraße; der Gaul des Wegebauinspektors stand friedlich und fromm daneben und riss mit lang vorgestrecktem Halse das Gras aus dem Graben. In Duft und Glanz lag die Nähe und die Ferne, und der Vetter Wassertreter wiederholte:
»Goethes sämtliche Werke! Von diesem Steinhaufen bis zum Horizont und hinaus über den Horizont sagt alles mit Behaglichkeit: Blättern Sie weiter, auch über die nächste Seite scheint die Sonne!… Vierzig Bände Weltruhms, zweiundachtzig Lebensjahre und nur vier Wochen ungetrübtes Glück oder besser eigentliches Behagen – welch ein Trost für uns alle dieser alte Knabe in seiner Fürstengrube zu Weimar ist! Ob man ein großer Poet und Staatsminister oder ein kleiner Narr und Wegebauinspektor ist, bleibt sich am Ende verflucht gleich – ein Vivat allen guten wackeren Gesellen zu Wasser und zu Lande, auf ebner Erde und auf den goldenen Wolken im blauen Äther, den guten wackeren Gesellen, die aushalten und sich nicht irren lassen und bei jeder Witterung den Tag preisen. Tue, was du willst, Leonhard, aber in allen Lagen nimm dir ein Exempel an dem alten Geheimen Rat und an dem Vetter Wassertreter; stirbst du jung, so wirst du das Deinige genossen haben, stirbst du alt, so kannst du dich in Ruhe einen Quietisten, Lumpen, oder wie es dem Pöbel sonst beliebt, schimpfen lassen: du hast, was dir gehört, gerettet und kannst die Leute reden lassen.«
»Das ist alles recht schön«, sagte Leonhard Hagebucher kläglich, »aber fürs erste handelt es sich für mich weniger darum, die Nase hoch zu tragen, als sie aus dem Schlamm zu ziehen. Alles Schlagen mit Händen und Füßen versenkt mich nur immer tiefer in den Morast; noch eine kurze Zeit, und der arme Teufel ist verschwunden, und der Vetter Wassertreter kann ihm ein Denkmal setzen mit der Inschrift: Hier liegt der Tropf, seines Schicksals würdig. Daheim im Tumurkielande –«
»Daheim?« rief der Vetter in fast kläglicherem Tone als der Afrikaner. »Daheim im Tumurkielande! Also so weit bist du schon herunter? Es wäre freilich nicht zu verwundern; aber traurig ist’s doch. Armer Bursch, die Gefangenschaft hat dich grenzenlos verwöhnt – statten wir der Madam Klaudine einen Besuch ab; auch das wäre kein Wunder, wenn sie den Rat für uns hätte, den wir nunmehr schon wochenlang vergeblich in allen Ritzen und Winkeln suchen.«
»Wer ist diese Madam Klaudine?« fragte Leonhard. »Ich höre diesen Namen nicht zum ersten Male, und immer wird er mit einer gewissen melancholischen Betonung ausgesprochen. Wer ist diese geheimnisvolle Madam Klaudine?«
»Eine Frau, welcher du schon längst einen Besuch gemacht haben solltest, Sohn Afrikas. Jetzt haben wir noch einige restaurierte Abzugsgräben und den Weg am Nonnenkopf, über welchen mir neulich der Wolkenbruch so niederträchtig herfiel, zu revidieren; – im Ochsen zu Fliegenhausen halten wir Mittag und Mittagsruhe, und nachher gehen wir zur Madam Klaudine. Im Laufe des Tages werde ich dir dieses und jenes von der Frau erzählen. Sammle die übrigen Brocken und lass uns wandern.«
Leonhard Hagebucher erhob sich, und der Vetter Wassertreter bestieg von neuem sein Ross. Sie verbrachten den Morgen ihrem Programm gemäß, zählten Steinhaufen, untersuchten Wasserläufe und Gräben und hielten allen die grüne Ferne durchschnurrenden Eisenbahnzügen zum Trotz ihre Wege rein und in gutem Zustande.
Gemütlichkeit und Grobheit wechselten in den Kundgebungen des Vetters den Umständen und den Leuten gemäß, mit welchen er es in seinem Amte zu tun hatte, und was er von der Madam Klaudine zu erzählen wusste, erzählte er. Leonhard hatte wiederum Gelegenheit, sich in manchen Dingen zu orientieren, die ihm sehr neu erschienen, es aber keineswegs waren.
»Fliegenhausen wird dir wohl noch bekannt sein, und der Katzenmühle wirst du dich ebenfalls noch erinnern«, sprach der Vetter Wassertreter. »Solch ein deutsches Dorf hält seine Erscheinung und seinen Geruch mit merkwürdiger Zähigkeit fest, und aus dem Boden wächst immer dasselbige Geschlecht, und im Ochsen steht der Eichentisch noch auf derselben Stelle, auf welcher er vor fünfzig Jahren stand. Mit der Mühle ist das anders, und du wirst ja sehen, was davon übriggeblieben ist. Den Bach hat der Teufel – wollt ich sagen, das neunzehnte Jahrhundert geholt, und es ist ein Jammer und Schaden um seine Forellen. Den Katzenmüller mitsamt seiner Familie hat der Teufel wirklich geholt und via Bremen nach Amerika expediert, wo es ihm besser geht, als er’s verdient. Im Jahre einundfünfzig waren Bach, Mühle, Müller, Müllerin und Müllertochter noch im lustigsten Flor; um Weihnachten zweiundfünfzig aber, als Madam Klaudine ankam, ging es zu Ende mit allem: die hübsche Karoline war in das Landeszuchthaus abgeliefert, die beiden Alten rüsteten sich zu ihrer Fahrt über die See, und oben im Lande war bereits der Grund zu den Fabriken gelegt, welche den Bach fraßen. Das ist so eine einfache Geschichte, so eine Art Dorfgeschichte, ohne Glanzwichse, Pomade und Kölnisches Wasser. Das schöne Müllermädchen spielte natürlich die Hauptrolle in dem Trauerspiel, das Kriminalgericht fand sich berufen, allerlei Dorfgerüchten nachzugehen – eine Kindsleiche wurde irgendwo gefunden – im