So oder ähnlich wäre es dem Afrikaner erlaubt gewesen sich zu äußern; er hätte auch, wie folgt, sprechen können:
»Gnädiges Fräulein, Sie haben gleich bei unserer ersten Begegnung einen merkwürdigen Eindruck auf mich gemacht; denn Sie bedingen für mich einen merkwürdigen Gegensatz zu meiner bisherigen Existenz. Gnädiges Fräulein, einem Manne, welcher zehn Jahre in Abu Telfan im täglichen Verkehr mit Madam Kulla Gulla, ihren Freundinnen, Töchtern, Nichten und so weiter zubrachte, geht der Begriff des Vaterlandes in wundervoller Klarheit und Anmut auf, wenn es ihm auch nur vierzehn Tage hindurch vergönnt ist, täglich einige Male in Ihre Augen zu blicken. Fräulein von Einstein, die schönsten Illusionen der Jugend müssen sich mir notwendig in Ihnen verkörpern. Und was die Tante Schnödler anbetrifft, so bilden Sie auch zu dieser einen angenehmen Gegensatz, gnädiges Fräulein; und wenn einmal im deutschen Mondenschein, während dem letzten Maikäfergesumme des Jahres einem Menschen in meiner Situation das Tumurkieland und das Vaterland durcheinanderquirlen und das Lachen dem Elend das Beste abgewinnt, so wird jeder Einsichtige dieses der Gelegenheit des Orts, der Zeit und der Umstände vollkommen angemessen finden.«
Herr Leonhard Hagebucher äußerte sich weder auf die eine noch die andere Art, er rief:
»Der Vetter Wassertreter! Wahrhaftig, es ist der Vetter Wassertreter!«
Der Mond lächelte gar vergnüglich herab, und von der Landstraße her erklang es etwas rau und unsicher, aber jedenfalls sehr heiter:
»Wir hatten gebauet
Ein stattliches Haus –«
Der Herr Wegebauinspektor und Vetter hatte die Gastfreiheit der Muhme Hagebucher nicht verachtet; aber er verachtete auch den Krug zum Goldenen Rad nicht. Er hatte tapfer auf dem Familientage standgehalten und ebenso tapfer den Notabeln des Dorfes in der Schenke. Er hatte jedem, der ihn trocken oder nass anging, Bescheid getan. Gestärkt, friedlich und wohlwollend zog er jetzt auf seiner Landstraße heim und seinen Gaul am Zügel hinter sich her. Seine Schuld war es nicht, dass weder das Gebäude der deutschen Burschenschaft noch der Hagebuchersche Familienfriede unter Dach kamen; er hatte das Seine redlich getan und kümmerte sich um üble Nachreden nicht im mindesten. Als ihn Lina anrief und ihm mit den beiden anderen in den Weg trat, betätigte er durchaus keine ungewöhnliche Verwunderung, sondern nahm auch diesen guten Augenblick, wie er ihm gegeben wurde, schob die Mütze noch ein wenig mehr auf den Hinterkopf, drückte den Tabak in der kurzen Pfeife fest und sagte:
»Guten Abend! Ich wünsche der Jugend alles nur mögliche Pläsier miteinander.«
»Danke, Herr Vetter«, erwiderte das Hoffräulein, »ich habe bereits wie gewöhnlich Ihr Loblied gesungen, und wir wissen, wie wir es meinen. Wir hielten soeben auch eine Ratssitzung zwischen den Büschen in Sachen Herrn Leonhard Hagebuchers und vermissten Sie sehr dabei, Wegebauinspektorchen. Sie haben so gut zwischen vier Wänden gesprochen, wollen Sie uns nicht auch noch ein Wörtchen hier im Mondenschein und im Grünen sagen?«
»Im Grünen und im Mondenschein, ihr Narren«, brummte der Alte, »das ist wahrlich die rechte Zeit und Gelegenheit für uns, Rat zu geben und zu nehmen. Ei freilich, die Vögel, die zueinandergehören, finden einander, und lockt der eine im Zaun, so antworten zwanzig seinesgleichen aus dem Roggenfeld, dem Walde oder von der Wiese. Mondschein und Grünkraut, unsereiner, der aus dem Jahre siebenzehnhundertachtundneunzig stammt, weiß freilich davon zu sagen. Es war eine schöne Zeit, als man neunzehn Frühlinge durchlebt hatte und in Kompanie mit den tapfern und treuen deutschen Fürsten und ihren frommen Ministern das neue heilige Reich baute. Vor dem Krachen des groben Geschützes bis zum Jahre fünfzehn hatte sich das Gewölk zerteilt, und ganz Deutschland lag in der silbernsten Beleuchtung unter unsern Berggipfeln. Junges Volk, Kreuzhimmeltausenddonnerwetter, das war eine liebliche Zeit, eine schöne Zeit, die Zeit der Halluzinationen und die Zeit für die Halunken! O Freiheit, die ich meine – sämtliche Zuchthäuser und Kasernen von Gottes Gnaden verwandelten sich in gotische Dome, und für jeden schwarzen Sammetrock erzog eine deutsche Mutter eine deutsche Jungfrau mit blondem Haar und blauen Augen. O verflucht – das war über alle Beschreibung; aber ein Glück war’s, dass die Tante Klementine damals erst die Wände beschrie, sie hätte mich sonst ganz gewiss bei meinen süßesten Gefühlen gepackt. Mondschein und Maikäfer! Fräulein von Einstein, sehen Sie es mir noch an, dass ich einstmalen an den Kaiser im Kyffhäuser geglaubt und die Gitarre dazu geschlagen habe? Jaja, wir waren alle auf dem Marsche nach Utopia, gleich dem Afrikaner dort, als er von der Universität durchbrannte; und als wir uns wie er im Tumurkielande wiederfanden, in dem ›guten Land, wo Lieb und Treu den Schmerz des Erdenlebens stillt‹ – nämlich auf der Festung, da hatten wir diesen Karlsbader Beschluss des Schicksals dankbarlichst zu akzeptieren und unsern Mainachtsrausch ohne weiteres Gesperr, Gezerr und Gezappel zu verschlafen. Als wir dann erwachten, war ein höchst ungemütlicher Tag heraufgedämmert. Der Himmel grinste uns so erbärmlich grau an, als wir es verdienten, und jeder Hanswurst, Narr, dumme Junge und Enthusiast bekam seinen Tritt, der ihn bergab in den Sumpf, in den düstern Keller, in den Winkel expedierte. Im Winkel bin ich sitzengeblieben, und wenn das Loch verschlossen sein sollte, Leonhard, so liegt der Schlüssel auf dem Vorplatz unter dem Uhrkasten. Den Küchenschrank kennst du jawohl noch aus deiner Knabenzeit; die Knasterrolle hält sich seitwärts im Kabinette hinter der Tür auf. Du bist zu jeder Zeit willkommen, wie ich dir schon vorhin sagte, mein Junge; und mehr Glück hast du auch als der Vetter Wassertreter, solches ist mir längst klargeworden.«
Es fiel in diesem Augenblicke eine Sternschnuppe, und hastig fragte das Hoffräulein:
»Was dachtest du eben, Lina?«
»An meines Bruders Glück.«
»Und der Gedanke war ein Wunsch – ohne Zweifel! Was haben wir noch nötig, hier Rat zu halten? Der Schlüssel zu des Vetters Gemächern liegt unter dem Uhrgehäuse, im Fall der Vetter nicht zu Hause sein sollte; merken Sie sich das, Herr Leonhard Hagebucher. Herr Vetter, ich rekommandiere mich Ihren Ratschlägen; Lina, ich empfehle mich deinen süßen Wünschen; übrigens wird es kühl und feucht; dass wir allesamt sehr kluge und gescheite Leute sind, haben wir wieder einmal bewiesen und erfahren; gute Nacht, gute Nacht!«
»Gute Nacht, mein Allergnädigstes«, sagte der Wegebauinspektor mit ungemeiner Zärtlichkeit und wandte sich, als das Hoffräulein durch das Loch in der Hecke des Bumsdorfer