»Tue mir die Liebe an und lass dem Jungen seine Zeit«, sagte er aufstehend. »Wenn aber nicht, so zeige, dass du ein gutes Herz hast, mach dem Jammer ein Ende und wirf den Lump schnell aus dem Hause. Frau Base, ich sage meinen schönsten Dank für die angenehme Unterhaltung; gib mir einen Kuss, Lina, und sage dem Leonhard – na, lass nur, ich will ihm schon selber meine Meinungen sagen. Horch, Philomele schlägt im Gebüsch, und dort steigt der silberne Mond über den friedlichen Hütten des Dorfes auf. Jetzt holt der Mensch sein treues Ross aus dem Stall der Schenke, und einsam trabt der Einsame zu seinem einsamen Gezelt. Auch meinerseits guten Abend!«
»Guten Abend!« sagte der Vater Hagebucher sehr kurz und rührte sich auch dieses Mal nicht vom Platz. Die Mutter Leonhards aber begleitete den Wegebauinspektor bis zu der Tür des Gartens:
»O Vetter, Vetter, was soll daraus werden?«
»Ja, Base Hagebucher, diese Frage habe ich sehr häufig an das Schicksal gestellt und selten die Antwort bekommen, welche ich zu hören wünschte. Im letzten Grunde lebt man nur deshalb, und das ist wenigstens ein Trost. Wer will so ungeduldig sein? Auch beim Wegebau kann man lernen, dass die Vorsehung ihre Zeit haben will. Wünsche eine geruhsame Nacht, Base; hören Sie, jetzt geht der Alte drinnen los – jaja, ich weiß schon seit dem Jahre siebenzehn, dass wir in einer kuriosen Welt leben. Wünsche recht wohl zu ruhen, Base Hagebucher.«
Sechstes Kapitel
Wo war der Mann aus Troglodytice geblieben? In dem Augenblicke, in welchem die Tante Schnödler und mit ihr sämtliche Verwandtschaft rauschend und entrüstet emporfuhr, hatte er sich geduckt, war hinter dem Rücken seiner Lieben an der Wand dahingeschlichen, hatte mit einem Sprung die Haustür erreicht und mit einem zweiten Sprunge über die Gartenhecke hinter dem väterlichen Hause das freie Feld. Seit ihn die Baggaraneger jagten und fingen, hatte er nicht eine solche Gelenkigkeit der Glieder entwickelt, war er sich nicht einer solchen Schwung- und Schnellkraft bewusst geworden; aber wie die Baggaraneger blieben ihm auch die süßen Heimatsgefühle auf den Fersen, und er konnte ihnen nicht entwischen. Da lag er im Grase unter der Hecke, atmete aus und zitierte einige auf die Tante Schnödler bezügliche Stellen des Korans; dann fielen die Schatten des Abends auch über ihn, der Mond ging ebenfalls über ihm auf, und er – Leonhard Hagebucher – sprach ein anderes Wort aus, welches der Prophet freilich nicht gesagt hatte und welches nicht nachgeschrieben werden kann, ohne den Anstand bedenklich zu verletzen.
Nur ganz allmählich gewann die Grille in dem Schlehenbusch neben ihm den schrillen Heimatstönen in seiner Seele die Dominante ab; mit leisem Gegurgel schien sich das seichte Wasser des Feldgrabens in die Tiefe der Erde zu verlaufen, und ähnlich gurgelnd verliefen sich die hohen Wasser, die vor einer Stunde noch in der väterlichen Wohnstube so arge Wellen geschlagen hatten. Am Rande des Grabens saß der Afrikaner, zog die Knie gegen das Kinn in die Höhe, umschlang die Schienbeine mit den Händen und gelangte in dieser dem Nachdenken so günstigen Positur zu der Überzeugung, dass der heutige Tag ihm kein verlorener gewesen sei.
Merkwürdig, merkwürdig! Was war der beste Wille, die Zeiten der Vergangenheit zu alter, vergnüglicher, bunter Lebendigkeit wiederaufzufrischen, gegen die Ankunft der gelben Kutsche von Nippenburg? Was war alles Zurücksehnen, Zurückträumen, Zurückdenken gegen den Onkel Stadtrat und den Onkel Sackermann, welche beide in Fleisch und Blut das, was gewesen war und noch war, auf das gediegenste zur Erscheinung brachten?! Das innigste und eifrigste Bestreben, mit dem Gefühl, dem Verstande, der Vernunft, der Fantasie, mit dem süßesten Ahnungsvermögen den Dingen der Heimat wieder beizukommen, hatte sich als ein nichtiges, sehr vergebliches Abquälen erwiesen: vor diesem Familienkonklave aber waren die sieben Siegel wie von selber aufgesprungen. In klarster Beleuchtung lagen die stillen Gefilde der Kindheits- und Jünglingsjahre vor Herrn Leonhard Hagebucher da; es war nicht mehr nötig, ihren Mysterien nachzugrübeln und sich den Kopf darüber zu zerbrechen.
Wie der deutsche Mond höher stieg, fing das Wasser, welches mit dem schon beschriebenen Gegurgel den Graben durchschlich, an, hie und da lieblich zu schimmern, und der leider schon vom ehrlichen Wandsbecker Boten lyrisch verwendete weiße Nebel machte sich ebenfalls auf den Wiesen bemerkbar. Der Mond schien dem Mann aus dem Tumurkielande auf den Kopf, der Nebel stieg ihm in die Nase, und er – Hagebucher – ließ die Schienbeine fahren, schnellte empor, stand hoch aufgerichtet in der holden Nacht, rieb die Hände und hub an – leise vor sich hinzulachen. Er lachte, der Barbar, er wagte sogar, laut zu lachen, der verwilderte Unmensch; und dann schüttelte er sich, er wagte es, sich zu schütteln; und ohne auf die Gefühle der Tante Schnödler Rücksicht zu nehmen, gratulierte er sich selber zu der soeben zum Durchbruch gekommenen wohltätigen Krisis, und leider hatte er allen zarteren Regungen des Menschenherzens zum Trotz recht. In diesem Lachen hatte er für seine künftige Existenz tausendmal mehr gewonnen, als ihm ganze Säcke voll Seufzer und ein Dutzend von ihm selber wohlgefüllte Tränenkrüge einbringen konnten. Er hatte jetzt wenigstens in einer Beziehung die Überzeugung errungen, dass er während seines Siebenschläferschlafes im Mondgebirge nicht viel daheim versäumt habe und dass somit alles gebrochene, mutlose Fortdämmern und melancholische Hinbrüten über solchen imaginären Verlust recht überflüssig und töricht sei. Was seine jetzige Umgebung während seiner Abwesenheit gewonnen hatte, das konnte er in jedem Augenblicke auch noch haben, und wenn er mehr wollte, so gehörte vielleicht nur eine türkische Ruhe dazu, um jenseits jedes unnützen Schwebezustandes in einer nützlichen Tätigkeit wieder sicher Fuß zu fassen. Er prüfte seine Gelenke und Muskeln und tat den Sprung, das heißt, fürs erste sprang er über den Graben, welcher die nebelige Wiese von dem väterlichen Gütchen schied, und schritt bedächtig mit übereinandergeschlagenen Armen erst durch das feuchte Gras und sodann auf dem engen Fußwege an den Gärten des Dorfes hin.
Es war auch die letzte Fest- und Jubelnacht der Maikäfer, deren es in diesem gesegneten Jahre eine erkleckliche Anzahl gegeben hatte. Sie schienen