»Lucy, wenden wir uns – an den – den – den anderen – Gentleman!«
»An?… an wen?« fragte Lucie von Rippgen schrill und in nicht ganz unberechtigtem Erstarren.
»O ja! an den anderen Gentleman! Er wird dieses verstehen. Er wird größer von uns denken, als wir von ihm. Er wird uns von hier wegschaffen.«
»Christabel?«
»Ja, ja! Er ist roh – raw, nein, nicht raw, er ist rude; aber er wird uns einen Wagen anschaffen, er wird uns retten.«
»Der Unhold?!«
»Yes, der Doktor Pech – Pitch – Pitschlin! Wir werden sterben ohne den anderen Gentleman, Lucy. Lass deinen Mann ihn rufen, lass ihn herkommen.«
»Wo ist dieser – dein Herr Doktor Pechlin?« wandte sich die Baronin, ihre Schultern mit einem Ruck znsammenziehend, kurz und schroff an den Gatten.
»Beste, im Ochsen. Er hat seit längerer Zeit dieses Haus verlassen.«
»Im Ochsen? Und du bist ihm nicht, an seinen Rockschößen hängend, dorthin gefolgt?«
»Wir haben zusammen zu Abend gespeist, und dann ist er fortgegangen, um, wie er sagte, ein wenig an dem ländlichen Vergnügen teilzunehmen. O er wird daran teilnehmen! Ich bin fest überzeugt, dass man ihn bereits totgeschlagen hat.«
Die gnädige Frau wandte sich mit einem neuen Achselzucken von dem Gatten ab und mit einem sehr fragenden Blicke an die Freundin:
»Selbst die bloße Aussicht – die geringste Hoffnung, dass es sich so verhalte, könnte mich diese schrecklichen Stunden ertragen lassen. Christabel, wenn man ihn tot geprügelt hätte?!«
Auf die britische Jungfrau übte diese Vorstellung eine ebenso belebende Wirkung wie auf ihre Freundin, und die Romantik derselben hob sie ebenfalls einen Augenblick über den Wunsch hinweg, den Exstiftler als kräftigen Schützer in der Not neben sich zu haben. Doch in dem nämlichen Moment traf der erste Stein das erste Fenster im Lamm; zersplitternd sprangen die Scherben im Zimmer umher, während das Wurfgeschoss dicht zu den Füßen Miss Christabels niederrollte.
Das änderte die Sache. Mit einem Zetergeschrei stürzten sich alle drei Damen, Miss Virginy nicht ausgeschlossen, einander in die Arme und bildeten die berühmte Thorwaldsensche Gruppe der drei Grazien nach, jedoch mit Gesichtern, die nicht lächelten. Um die Vortreppe des Hauses wogte der Kampf; nur der Kampf auf der Palas-Treppe des Königs Etzel konnte damit verglichen werden. Burgunden und Hunnen in Angriff und Verteidigung wälzten sich auf und ab die steinernen Stufen, und der Baron Ferdinand rang die Hände, bis ihn sein Weib am linken Oberarm packte und gellend ihm zuschrie:
»So hole ihn! Schaffe ihn her diesen – Herrn – Pechlin! Lass ihn kommen – deinen – Freund!«
»Ja, ja, for heaven’s sake, lass Sie kommen her die Mr. Pitchlin um des Himmels willen!« rief Miss Christabel Eddish, und der Baron, mit dem Mute der Verzweiflung sich losreißend, stürzte gegen die Tür, aus vollem Halse, doch ungemein schrill, aufs Geratewohl ins Weite und in die wogenden Haufen hineinschreiend:
»Pechle!… Pechle!… Pechle!«
»Hier!« brüllte aus des Tumultes Mitten ein kräftiger Bass zurück und der Baron atmete tief auf.
»Gott sei gedankt; er lebt noch!« Und ohne natürlich im mindesten sich der Schlussworte Tassos zu erinnern, rief er ihn, den Doktor Christoph Pechlin, von neuem an und zwar noch durchdringender:
»Pechle! Pechle! Pechle!«
»Ich komme im Augenblick«, schallte es zurück. »Nur einen Moment! Jetzt scheint es mir Zeit zu werden, dem Lärm ein Ende zu machen. Holla! Herr!… meine Herren –«
Der Hausflur des Wirtshauses zum Lamm war vollgedrängt von Menschen und zwar von sehr erbosten Menschen. Ein dunkles Gewühl aufgeregten Volkes bedeckte den freien Platz vor dem Hause; das Getöse innerhalb und außerhalb des Hauses war sinnverwirrend, und zwar nicht allein für die halbohnmächtigen Damen in der Honoratiorenstube: die Zeit und die Gelegenheit, eine Rede zu halten, waren da, und Pechle – Herr Christoph Pechlin aus Waldenbuch im Schönbuch war ebenfalls da.
Er hatte den englischen Baronet sich nach die Vortreppe des Lammes hinaufgeschleift, und da stand er, umdrängt von den Anhängern des Lamms, und Sir Hugh Sliddery hielt sich an ihm, wie der deutsche Baron bereits einige Male sich an ihm gehalten hatte.
Im vollen Behagen, bei bester Laune, ganz und gar nicht totgeprügelt, sondern vollkommen lebendig und bei guten Kräften schlug er beide Hände schütternd auf die Brüstung der Treppe, lehnte sich breitbrüstig vornüber und donnerte abermals, sämtliche Register seiner Rednerbefähigung ziehend:
»Holla! Himmeldonnerwetter! Meine Herren, i hab’s scho g’sagt, i bitt ums Wort.«
Und wie Zeus, der Vater der Götter und der Menschen, es, das heißt das Wort, jedes Mal in der Versammlung der Unsterblichen bekam, wenn er es ernstlich verlangte, so erhielt es jetzo auch unser Freund Christoph Pechlin. Der Kontrast zwischen der urplötzlich eintretenden Stille und dem vorhergehenden Lärm war so groß, dass es in der Tat schien, als ob nicht bloß die Bevölkerung von Hohenstaufen und der Umgegend, sondern als ob Himmel und Erde den Mund schlössen und den Atem anhielten, um zu hören und zu erfahren, was dieser Mann da auf der Treppe zu sagen habe.
Er hatte im Grunde wenig zu sagen; allein er sagte dieses Wenige mit dem gehörigen Nachdruck, wurde jedermann verständlich und sprach der Mehrheit aus der Seele. Letzteres war die Hauptsache, und ist die Hauptsache für jeden Volksredner, der nicht umsonst seinen Atem vergeuden will.
Von der Treppe des Lammes zu Hohenstaufen donnerte Pechle herab:
»Ihr Herre! Die mi kenne, die kenne i au, und die mi net kenne, die kenn i; also bitt i um a gefälliges G’hör, und nachher mag jedweder tun und lasse, was er will. Aber das sag i, was i denk, und hab’s immer so g’halte: wann i gemeint hab, ’s ischt g’nug, so ischt’s gewöhnlich g’nug gewese. Also es ischt meine u’maßgebliche Meinung, dass es jetzt g’nug ischt. Sei Vergnüge hat jeder g’habt, und nachher wird’s wischt; also denk i, wir mäßige uns! Wer z’erst anfange hat und wer recht hat, das kriegt man ja doch nimmer ’raus, des muss i wisse als Politiker und Schtaatsma’; und nu lasse mer’s gut sei, und es geht a jeder zurück zu sei’m Schoppe, und morge früh geht ei’ jeder zu G’richt, der heut no net z’friede ischt; nacher könne mer ja weiter