Das zwanzigste Kapitel.
Die Pflicht rief uns schon seit geraumer Zeit, wir hörten nur nicht darauf; jetzt aber folgen wir ihrem Rufe und – verfügen uns in das Lamm zurück. Es ist aber auch die allerhöchste Zeit, denn von neuem gewinnt die Hochzeitsgesellschaft aus dem Ochsen den Neidern aus dem Lamm Schritt für Schritt die Dorfgasse ab und dringt mächtig vor gegen das Lamm.
Während in geschilderter Weise Freund Pechle seinem Vergnügen nachgegangen war, hatte sein Freund, der Baron Ferdinand von Rippgen, das Seinige getan und ausgehalten, und das war gerade kein Vergnügen gewesen. Wenn Herr Christoph Pechlin nur den Kopf in die Tür des Damenzimmers im Lamm gesteckt hatte, so hatte der Baron der dringenden und grausigen Notwendigkeit um ein Bedeutendes weiter nachgeben müssen und war eingetreten. Eingetreten? Es ließe sich wahrlich über den Ausdruck rechten! Hatte er sich in das Gemach hineingeschoben? Auch dieses nicht; – er war ganz einfach hineingeschoben worden, und zwar von einer Macht, der noch nie irgendjemand in seinem Leben einen zu einem rühmlichen Resultat führenden Widerstand entgegengesetzt hat.
Und alle drei Damen hatten ihn bei seinem Erscheinen sofort ins Auge gefasst, und eine jegliche hatte einen anderen Ton von sich gegeben! Einen Schrei der Befriedigung hatte Miss Virginy hören lassen; Miss Christabel Eddish hatte mit einem glucksenden Laut sich zu einem neuen Krampfanfall in den Armen ihrer treuen Dienerin zurecht gelegt; aber die gnädige Frau allein hatte auf der Stelle den rechten Ton getroffen und zwar in jeder Hinsicht.
Trotz Not, Angst und Schwächeanwandlungen hatte sie, die gnädige Frau, die Äußerungen tiefster seelischer Empörung in der künstlerischsten Weise getroffen. Ein Blick – ein einziger Blick auf den Gatten, und sie stand ebenso auf dem richtigen und erhöhten Standpunkte wie drunten in der Dorfgasse Pechle, der Exstiftler, zwischen dem Lamm und dem Ochsen. Der Baron hatte die Tür noch nicht hinter sich zugezogen, als sein Weib bereits den festesten Fuß ihm gegenüber gefasst hatte und ihn von der Höhe ihrer Lebensanschauung und vor allen Dingen von ihrer Anschauung der gegenwärtigen Stunde aus für alles – alles – alles verantwortlich machte, was ihr und ihrer blassen Freundin – Miss Virginy gar nicht einmal mit in die Rechnung gezogen – bis jetzt in Hohenstaufen begegnet war, und alles – alles, was ihr fernerhin noch daselbst passieren konnte!
Es war fabelhaft, aber umso wahrer: der Baron Ferdinand von Rippgen fühlte sich bei dem ersten Blick seiner Gattin und dem ersten Blick auf sie durch und durch als Sünder, und beugte sein Haupt unter die Schale des Zornes, die über ihn ausgegossen wurde. Schaudernd fühlte er sich hinein in die widerwärtige, die grässliche Lage der Damen und fasste natürlich seine Schuld in ihrer ganzen entsetzlichen, unverzeihlichen Größe. Schon ohne dass man ihn darauf aufmerksam machte, wusste er sich sofort in seiner ganzen Scheußlichkeit zu erkennen, und dass man ihn doch noch auf dieselbe aufmerksam machte, konnte nur als eine unverdiente Güte von seiten der Damen gelten.
Was konnte man von einem solchen Manne erwarten? Wo waren die Seiten an ihm, an die sich ein edles Weib und eine bebende, hilfsbedürftige Jungfrau lehnen konnten, ohne befürchten zu müssen, mit ihm umzufallen?
Es war grässlich und umso grässlicher, je wilder das Geschrei und der Schlachtlärm draußen vor den Fenstern anschwollen, je mehr sich das Getümmel dem Lamm näherte, je dunkler die Nacht und je lebendiger die Fantasie wurde.
»So hilf doch! Tue etwas! Rette uns oder verschaff uns doch wenigstens ein Gemach, wo wir nichts von diesen Wil-den, diesen Bar-ba-ren sehen!« schrie die Baronin. »Wir verlangen gar nicht, dass du dich weiter um uns kümmerst; aber dieses Brüllen und Toben halte ich nicht länger aus und Christabel auch nicht. Nennst du dich wirklich einen Mann, so zeige dich ein einziges Mal als ein solcher und lass anspannen.«
»Yes! Yes! Anspannen! Abfahren!« wimmerte Miss Christabel.
»Lass anspannen und lass uns abfahren; einerlei wohin! wohin in die Nacht!… Ferdinand, ich befehle dir, die Pferde kommen zu lassen. Es soll mir jetzt gleichgültig sein, wohin du uns führst; aber fort will ich – will ich! Fort, nur fort aus dieser Hölle, diesem Abgrunde von Brutalität!«
»Ja, ja, Liebste, Beste, Gute – gern, gern – sogleich auf der Stelle! Ganz wie du befiehlst, mein Kind; aber – aber –«
»Was aber? So steh doch nicht so dumm da! Mach fort; oder willst du auch in diesem Moment noch mit den übrigen unter einer Decke spielen? Hörst du, du sollst anspannen lassen; wir wollen auf der Stelle nach Stuttgart zurückfahren.«
»Gewiss, Liebste, wollen wir das; aber – Lucie, ihr habt ja selber euern Wagen nach Göppingen zurückgeschickt. Woher in aller Welt soll ich in jetziger Stunde und unter diesen Umständen ein Gefährt – ein Fuhrwerk nehmen?«
»Das ist deine Sache. Du trägst die Schuld, dass wir uns hier befinden, und du wirst augenblicklich dafür Sorge tragen, dass wir von hier wegkommen.«
»Aber Lucie?! liebste Lucie?!«
»Du stehst immer noch da? O Gott, Christabel siehst du – siehst du ihn? O Christabel, sieh ihn dir an!«
Miss Christabel Eddish war wirklich imstande, sich den Baron Ferdinand von Rippgen noch einmal anzusehen. Dann aber schloss sie sogleich von neuem die Augen, fiel ihrer Virginy womöglich noch schwerer auf und in die Arme und hauchte im Sinken:
»Shocking! shocking!«
»Das ist es! Schokking ist es!« schrie die empörte Gattin funkensprühend, »O, dass er eine Ahnung davon hätte, wie ich über ihn denke! Einen Wagen! Einen Wagen – hörst du? Auf der Stelle einen Wagen –«
Es wirbelten allerlei fantastische Fuhrgelegenheiten durch das zerrüttete Gehirn des ratlosen Freiherrn. Er dachte sogar an die Murmeltiere, die sich zur Erntezeit auf den Rücken legen, eine Ladung Wintervorrat zwischen die Pfoten nehmen und sich am Schwanze nach Hause ziehen lassen, und er hatte Lust, diese geistreichen Tiere zu beneiden. Er dachte an einen Schubkarren! Wenn Pechle schob, und er, des heiligen römischen Reiches voreinst unmittelbarer Freiherr sich vorspannte? Nein, nein, auch das war nur eine schöne Vorstellung! Er dachte an gar nichts mehr, das heißt, er suchte von neuem durch Vernunftgründe zu wirken.
»Mein teures Herz«, rief er, beide zitternde Hände erhebend, »ich bitte, ich beschwöre dich, zu überlegen! Glaubst du wirklich, dass ein Eingeborener dieses Ortes unter dem Eindruck der augenblicklich herrschenden Stimmung, sich herbeilassen werde, ein Fuhrwerk, und sei es selbst nur einen Leiterwagen zu bespannen und kühl und ruhig nach Göppingen