Das fünfzehnte Kapitel.
O du süße, balsamische, süddeutsche Sommernacht, hilft uns denn niemand davon, ist es denn unbedingt nötig, dass wir dich entweihen müssen? Es scheint nicht nur so, sondern es ist in der Tat so, und demgemäß fahren wir fort, zwar beruhigt in unserm Gewissen, aber dessen ungeachtet tief gekränkt, beschädigt und beleidigt in unsern innigsten Gefühlen.
Sie war da, die balsamische, süddeutsche Nacht. Sie war über die Berge heraufgekommen und hatte die Täler erfüllt. Eigentlich hatte sie zuerst die Täler erfüllt und war dann erst um den Berg und über die Berge heraufgekommen; doch auf solche Spitzfindigkeiten kann sich nur ein behaglicher Mensch einlassen, und wir fühlen uns, unserer gegenwärtigen Aufgabe gegenüber, durchaus nicht behaglich.
Sie hatte sich um den Gipfel des alten heiligen Kaiserberges gelegt, diese wundervolle Nacht des deutschen Südens, und wer sie oben geduldig erwartet hatte, der hörte nun ob seinem Haupte und um seine Ohren den leisen Flug ihres Gevögels und das Surren und Schnurren ihrer Kerbtiere und sah die Talebene sich bedecken mit glitzernden Pünktchen, den Lichtern in den Wohnungen der Menschen, seiner Brüder und Schwestern.
Hohe Fantasie würde außer dem Geräusch des nächtlichen Tierlebens vielleicht noch allerlei andere und aufspannendere Töne von dem geweiheten Gipfel aus vernommen haben; schon selbst der Baron von Rippgen, dem man im Grunde nicht nachsagen konnte, dass er eine ausnehmend hohe Fantasie besitze, hörte dergleichen. Christoph Pechlin, dessen Einbildungskraft häufiger mit ihm durchging, als seinen besten Freunden lieb sein konnte, hörte in dieser ahnungsvollen Stunde einmal und ausnahmsweise durchaus richtig und verfehlte natürlich nicht, seinen Freund auf seine Beobachtungen aufmerksam zu machen.
Was der geschäftige Tag, die Leidenschaft des Tageslichtes überrauscht hatte, das machte sich jetzt mehr und mehr bemerkbar. Aus der Tiefe drang es zu den beiden in der Höhe empor, und Pechle spitzte die Ohren.
Er spitzte sie mehr und mehr, und dann legte er dem neben ihm kauernden Baron die Hand auf den Hut, um auch seines Ferdinands Aufmerksamkeit möglichst zu erregen,
Was aber drang aus der Tiefe empor?
Zuerst ein anhaltender, kreischender Jauchzer, sodann ein noch länger anhaltendes Gejohle. Dann leise, leise zarterer Klang – heitere Liederlust – wehmütig elegisches Ausklingen der Volksseele in Moll! Gesang von Männern und Weibern, und dazwischen leider wieder ein höhnisch schrillend Gejodel, alle zarten Gefühle eben genannter Volksseele zum Faustkampf, zum Kampf mit eichenen und hainbüchenen Knüppeln und ausgerissenen Stuhlbeinen, zur Weinschoppen und Bierseidel schleudernden Wirtshausschlacht herausfordernd! Dazwischen Geigen- und Hornmusik, kurz, das Getön der Hochzeit im Ochsen zu Hohenstaufen; – im Ochsen, nicht im Lamm! – –
»Horch«, sagte Pechle. »Vernimmst du?«
»Ei ja«, seufzte der Freiherr, »dass andere Leute vergnügt sein können, weiß ich schon lange.«
»Auf die Dauer könntest du mir imponieren!« sagte hierauf Pechle. »Auf die Antwort muss ich mich übrigens in der Einsamkeit und Stille sammeln, entschuldige mich für einige Augenblicke bei dir!«
Damit ließ er den hockenden Freund an seiner Stelle und schritt tiefatmend von ihm weg. Da er einmal im Gange war, so umschritt er auch der Nacht zum Trotz die ganze Platte des von seiner früheren Herrlichkeit so ganz und gar entblößten Kegels, und als er zu seinem Ausgangspunkte zurückgelangt war, fand er den Baron selbstverständlich noch am alten Orte und in derselben Haltung, nämlich sitzend im Nachttau und mit dem Kinn auf den Knien.
»Hast du nichts weiter vernommen, Rippgen?«
»Nichts!«
»Das wundert mich!« sprach Pechle, trat einige Schritte weiter an der dem Dorfe zugewandten Abdachung des Berges hinunter und legte horchend die Hand hinter das Ohr.
Er hatte nicht lange zu horchen. Seiner Sinneswahrnehmungen gewiss, tat er einen Sprung, stieß er selber einen Jauchzer aus, fasste den Arm des Freundes und schrie:
»O, du – du, nun wird’s doch schön! Nun sind wir geborgen, unter allen Umständen geborgen, sage ich dir! Sechserle, jetzt wird es sogar sehr schön, verlass dich auf mich. Und dunkel ist’s mittlerweile auch geworden, sodass niemand mehr im Dorfe unser Erröten sieht, und jetzt gehen auch wir still hinab und den Frauenzimmern nach. Wir logieren im Lamm auf dem Tanzboden, und im Ochsen ist Tanz! Ferdinandle, fürs erste kommen wir noch nicht ins Bett. Hurra, hie gut Württemberg alleweg!«
Er tat noch einen Luftsprung, schwang den Hut und ließ einen zweiten Jauchzer vom Hohenstaufen in die Nacht hinausschallen; sodann ließ er dem Vorschlag zur Rückkehr ins Dorf auf der Stelle die Ausführung folgen und schritt dem Freunde voran bergab.
Ängstlich – die Aussicht, auf der Stätte so großer Historie allein zurückgelassen zu werden, durchaus nicht erquicklich findend, war der Baron aufgesprungen und hatte den Rockschoss des Freundes erfasst. Er hielt ihn fest, diesen Schoß des leichten Sommergewandes seines Psychopompos, seines Seelenführers und ließ ihn nicht los, bis in das Dorf hinein.
Es war fast lächerlich betrüblich, mit welchem feinen Tastsinn der Gatte Lucias jeglichen Stein auf dem Wege, an welchem man sich stoßen konnte, fand und sich an ihm stieß. Über nicht eine einzige Unebenheit des Pfades hob ihn sein Schutzgeist schmerzlos hinweg. Schutzgeist? O ja, Schutzgeist! Wenn dieser Schutzgeist mit Gehalt für seine Leistungen angestellt war, so verdiente er wahrlich das Geld mit Sünden, und es war unverantwortlich, wenn die himmlische Vorsehung bei der nächsten Budgetberechnung ihn nicht vom Etat strich!
Schweratmend und tiefseufzend stolperte der Baron hinter seinem Führer her.
»Großer Gott«, ächzte er, »der Weg ist mir lang erschienen im Hinaufklettern; aber er muss gewachsen sein, während wir da oben mit meiner Frau und Miss Christabel zusammentrafen und nachher die Dunkelheit erwarteten.«
»Wohl möglich!« brummte Pechle.
»Jetzt haben wir die Nacht; doch ob ich sie überlebe, das ist eine andere Frage.«
»Eine Frage, die du wohl schon ziemlich häufig und auch bei Tage gestellt hast. Halte dich fest und ruhig an meine Gedichte – Tröstende Tränen – Pagina Hundertsiebenundzwanzig.«
»An deine Gedichte?«
»Trage ich sie nicht etwa hinten in der Rocktasche?