»Ja, tue das«, sprach der Exstiftler mit dem Ton einer Mutter, die ihr Kind geprügelt hat und Gewissensbisse darob empfindet. »Ich will aufrecht bleiben, und du wirst sehen, dass wir doch noch einen recht hübschen, vergnügten Abend erleben werden. Betrachte mich als deinen Vater und lass mich für dich sorgen.«
»Pechlin, du bist doch ein guter Kerl!«
»Ei freilich! Und du bist und bleibst mein bester Freund aus dem Ausland, du musst dich nur nicht zu sehr um das kümmern, was ich dann und wann in der Aufregung herausschreie. Siehst du, Ferdinand, unsereiner hier aus dem Ländle fasst es eben nicht, wenn diese große Stätte gar keinen erhebenden Eindruck auf einen Ausländer, den man hingeführt hat, macht. Wie ich hier stehe, reiche ich mit meinen Bei– Wurzeln bis in die tiefste Herrlichkeit und Machtentwicklung unseres Volkes hinab; aber du scheinst nicht einmal eine Ahnung davon zu haben, wer da vielleicht gestanden hat, wo du jetzt sitzest! O Ferdinand, was sollen alle diese großartigen, wundervollen Erinnerungen des deutschen Volkes von dir denken? Besinne dich doch auf deinen Wert! Bist du wirklich ein baro? ein freier deutscher Mann? Glaubst du in der Tat schon alle Pflichten gegen dich und deine Umgebung dadurch abgetragen zu haben, dass du der Mann eines deutschen Weibes geworden bist?«
»Ach Herrjeses!«
»Besinne dich, Ferdinand von Rippgen! Besinne dich noch ein einziges Mal reichsunmittelbar! Wir stehen oder sitzen hier auf dem Gipfel des Hohenstaufen und bringen in uns zwei der edelsten Stämme Germaniens zur Darstellung. Denke einmal recht nachdrücklich daran, was wohl Tacitus sagen würde, wenn er mich und dich hier in dieser Weise stehen und sitzen sähe. Ich bin fest überzeugt, der alte Bursche würde in seinem Diptychon einige ziemlich sonderliche Notizen für eine etwaige verbesserte und umgearbeitete Ausgabe seines Buches machen, und nachher möchte ich das romanische Lachen lieber doch nicht hören. O Ferdinand, ich, der biedere, tapfere Schwabe, du der wohlmeinende, mannhafte Sachse –«
»Jetzt sprichst du so; aber vor einer halben Stunde erst hast du mir vorgeworfen, wir seien aus Franken nach Meißen eingewandert und hätten dann im Kontakt mit den Slaven so peu à peu das reine Hochdeutsch erzeugt – die Büchersprache weißt’e. – Ei Herrchjeses, meine Beine!«
»Mensch, du bist wahrhaftig einer von denen, die nach Sankt Augustin unseren Herrgott bewogen haben, die Erlösung der Menschheit auf ein Bruchteil einzuschränken!« donnerte der Ureingeborene des Grund und Bodens von neuem wütend. »Da muss man ja die sämtlichen Reste seiner früheren pastoralen Milde zusammensuchen, um es notdürftig in deiner Gesellschaft und Nähe aushalten zu können. Was bringst du denn eigentlich zur Erscheinung, wenn du jetzt sogar von den berechtigten Eigentümlichkeiten deines Stammnamens verächtlich zu sprechen anfängst?«
»Nichts als mich selber!« sagte der Baron mit der Verbissenheit der höchsten Erschöpfung. »Und selbst das ist mir zu viel«, fügte er hinzu, »wie oft soll ich es dir denn sagen, dass ich es dir ganz und gar überlasse, mich mit zu repräsentieren?«
Dabei saß er und rieb unausgesetzt sich die Beine von den Knien bis zu den Knöcheln abwärts, und Christoph Pechlin stand vor ihm, und sah ihm zu und konnte zuletzt auch weiter nichts tun, als sich seinerseits etwas zu reiben, nämlich den Hinterkopf und eine, wie wir ziemlich bestimmt wissen, nur den eingeweihtesten und gebildetsten Phrenologen bekannte Gegend hinter den Ohren. –
Und während dieses alles auf dem Gipfel des Berges verhandelt wurde, schritten die beiden so sehr tief in ihren Gefühlen gekränkten Frauenzimmer den Berg immer noch weiter hinab, ohne sich umzusehen, wenigstens fürs erste. Solange sie sich von den beiden Ungeheuern auf dem Gipfel genau beobachtet glauben konnten, gingen sie würdig, eisern, aufgerichtet: zwei hohenstaufensche Prinzessinnen auf einem Abendgange zur Abendmesse in der Dorfkirche hätten nicht stattlicher und majestätischer dahingehen können, vorzüglich auf einem so steilen und holprichten Pfade.
Als jedoch durch und in der Entfernung und der immer stärker werdenden Dämmerung ziemlich beruhigend die Gewissheit vorhanden war, dass selbst dem besten Augenglase es unmöglich sei, sich auf Spezialitäten der Haltung und Gebärde einzulassen, ließ auch die Würde und Haltung beider Damen bedeutend nach.
Die Baronin fing an zu seufzen, und, gewichtiger auf die schlanke Freundin sich stützend, immer weinerlicher über den grässlichen Weg zu klagen. Und Miss Christabel Eddish stützte sich hinkend auf ihren Sonnenschirm und rief:
»Bless me, ich fühle mich auchfalls sehr angegriffen; aber es freut mich, dass wir sie haben lassen stehen allein. Auch sind wir nun bald im Hotel, was eine Tröstung ist.«
»Im Hotel?!« ächzte die Baronin. »O Christy, je dunkler es wird, desto unheimlicher wird mir die Vorstellung, in diesem entsetzlichen Dorfwirtshause übernachten zu müssen. Dir nicht?«
»O no!« sprach die Engländerin energisch. »Auch wartet ja Virginy mit dem Tee.«
»Besäße ich doch deine Kraft, mein mutiges Mädchen, mein starkes Herz! Was mich anbetrifft, so muss ich die letzten Reste meiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zusammennehmen, um den Gedanken an das uns Drohende ertragen zu können. Freilich ist mir die Vorstellung, den beiden Unmenschen dort oben hinter uns auf dem kahlen Plateau neuen Stoff zu neuem Hohn, neuem Hohnlachen und neuen Extravaganzen zu geben, noch unerträglicher. Virginy wird doch hoffentlich nicht vergessen haben, die Schachtel mit Insekt– mit dem Blütenstaub der persischen Kamille, mit dem nötigen Pulver einzupacken? Ach, Christabel, ich saß schon ziemlich häufig auf meinem Bette aufrecht, nach dem Morgen in Tränen mich sehnend; aber wie ich in diesem Augenblicke nach der nächsten Morgenröte verlange, das lässt sich nicht einmal durch Tränen und Händeringen deutlich machen.«
»Was die zwei Gentlemen angeht, so hast du recht, Lucy«, sprach die britische Jungfrau mit einem etwas ungeduldigen Zusammenziehen der Achseln.