Tief atmend war er wieder eingestiegen, und so war er durch das Verlorene Loch gefahren, hatte die Bärenburg in der Höhe durch den Feldstecher betrachtet und noch ziemlich früh am Tage Andeer erreicht, allwo ihn sein Dämon in der »Osteria« Travi erwartete, um ihn an den Schultern umzudrehen und ihn kurzweg wieder nach Norden zu dirigieren.
Da hielt er – nicht der Dämon, sondern der englische Kapitän vor der offenen, bunt und verlockend mit einer italienischen Landschaft bemalten Bogenwölbung, durch welche der Weg weiter nach Italien geht und überließ sich, diesmal nicht ganz so willenlos als in Thusis, den Händen der Kellner, die aus der nebenan sich öffnenden Pforte des Wirtshauses hervorstürzten, um ihn in den Speisesaal zu geleiten.
Generationen auf Generationen von Touristen haben auf ihrem Wege nach oder aus den Orangenländern diesen Speisesaal im Hotel Travi zu Andeer kennen gelernt, und auf alle hat er wahrscheinlich, wenigstens sicherlich mitten im Hochsommer, einen fröstelnden Eindruck gemacht. Eine lange Tafel läuft durch den Saal, und wenn es nicht unangenehm sein mag, in angenehmer Gesellschaft, die Seele voll von geahnten oder geschauten Wundern, sich an diesem Tische, wenn auch er besetzt ist, niederzulassen: so ist es umso schauerlicher, in einer Stimmung, wie die des Kapitän Sir Hugh war, nur einen einzelnen, in einen Überzieher gehüllten Gast, und zwar gegen Ende des Monats Mai, an ihm sitzend zu finden.
Der gröbste Gesell wird sich bewogen fühlen, dem melancholischen Eremiten schon von der Tür aus eine Verbeugung zu machen, aber diese Verbeugung, und selbst des höflichsten Reisenden, wird unbedingt immer weniger ein Produkt der Höflichkeit als des innerlichsten Frostes und einer das Mark der Knochen angreifenden Hilflosigkeit sein. Auf einer späteren Seite dieses Buches werden wir den Leser in den Kursaal zu Canstatt am Neckar führen und hoffen, ihm sodann das an dieser Stelle nur angedeutete Gefühl gänzlicher Verlorenheit um vieles deutlicher machen zu können.
Als Sir Hugh in den Speisesaal des Hotels Travi eintrat, um den Versuch zu machen, zu frühstücken, saß der einzelne Mensch an dem der Pforte entgegengesetzten Ende der Tafel bereits beim Frühstück, und die Wüste war um ihn. Ein offenbarer Hohn aber auf jedes menschliche Gesellschaft liebende Gemüt war die Frage des Oberkellners an den britischen Touristen: wo der Herr Platz zu nehmen belieben werde? Der Kapitän fasste diese Frage natürlich auf als das, was sie war, und überhörte sie vollständig. Stumm ließ er sich auf den nächsten Stuhl fallen – den Stuhl an der Tür, durch unermesslichen Raum getrennt von dem Einsiedler gegenüber in der nebeligen Ferne. Zusammenschauernd nahm er die ihm höflich dargereichte Speisekarte hin, sah jedoch, ehe er sie überblickte, geraume Zeit in den Nebel hinein und knöpfte währenddem den Rock fester zu.
Der Gast am oberen Ende des Tisches in der Wüste saß mit melancholisch über seinen Teller und sein Getränk gekrümmtem Rücken und verbarg sich, ohne von dem neueingetretenen Fremdling die geringste Notiz zu nehmen, hinter einem der halb im romanischen halb im deutschen Kauderwälsch geschriebenen und gedruckten Graubündner Tagesblätter, und bleibt uns selbstverständlich solange unbekannt, bis er die Nase über diese Zeitung erhebt.
Glücklicherweise geschah dieses bald; denn eben hatte der Kapitän unten am Tisch das Küchenprogramm niedergelegt und seine Wünsche kundgegeben, als der Fremde oben am Tische über den Boten aus Vaduz, Bonaduz, Rhäzüns, Katzis oder dergleichen herübersah.
Er sah herüber und schien sich zu verwundern. Er verwunderte sich sogar sehr. Langsam wuchs er, wie ein Schiff über den Meereshorizont, herauf. Den beiden sichtbar gewordenen weit aufgerissenen Augen folgte ein unbedingt noch weiter geöffneter Mund. Jetzt legte der Fremdling das Zeitungsblatt mit Nachdruck nieder, und schlug mit der flachen Rechten darauf, – er legte beide Hände flach auf den gastlichen Tisch des Hauses Travi; er erhob sich von seinem Stuhl, beugte sich soweit als möglich über die Tafel vor, dem Engländer zu, und dann – dann klang es hohl im öden Raume, hohl, aber desto überraschender, eindringlicher durch alle Nervenverästelungen dröhnend:
»Mein Gott, Sir Juh, sind Sie denn das?«
Und Sir Hugh Sliddery fuhr auf, starrte den Rufer in der Wüste an, ließ Messer und Gabel fallen und stammelte:
»Mr. S’molke! o very… now, indeed!… Herr Doktor Smolk!«
Er war es! Er war es in der Tat, unser uns bereits in jener Stuttgarter Kneipe bekannt gewordener juristischer Beirat aus Frankfurt am Main, – der internationale Doctor juris Leopold Schmolke, welcher nicht mit dem frommen Benjamin verwandt war, aber an jenem schönen Abend unserm Freund Pechle und dem Baron Ferdinand von Rippgen ins Ohr flüsterte, dass auch er, Leopold Schmolke, sich auf das Hauspostillenwesen verstehe und dann und wann imstande sei, seinen Klienten ein gottgeheiligt Schatzkästlein guten und lieblichen Rates und Trostes aufzuschließen.
Dass er wirklich dazu imstande sei, sollte der britische Kapitän Sir Hugh Sliddery augenblicklich erfahren. Der Kapitän durfte dreist zugreifen. Es stand ihm frei, einen frischen, vollen Griff in die weitoffene Truhe zu tun, und er tat ihn, wie wir sofort sehen werden.
Doch fürs erste standen beide Herren im Speisesaal des Hotels Travi zu Andeer am Ende oder auch Anfang der Via mala vor ihren Kuverts und sahen sich erstaunt von ferne an; jedoch nicht lange. Im nächsten Moment schon gingen sie sich hastig näher, traten einander so nahe als möglich und überzeugten sich durch den allergenauesten Augenschein, dass sie sich nicht in der Person geirrt hatten.
Dann rief der Engländer: »O yes, er ist es! Und dieses ist ein wonderfulles Zusammenstoßen!«
Und der Frankfurter Advokat sprach:
»Na, heere Se,