»Armer Junge«, sagte der Herr, »er hat sich wohl weh getan?«
»Ich hab’ ihm eine versetzt«, meldete sich ein baumlanger Strolch, »i bin ihm mit der Faust übers Maul g’fahren; i war’s, der wo ihn aufg’halten hat, Herr.«
Und grinsend griff der Lümmel an seinen Hut, ein Trinkgeld erwartend. Aber der alte Herr warf ihm nur einen bitterbösen Blick zu und sah sich ängstlich um, als liefe er selbst am liebsten davon, und er würde es wahrscheinlich auch getan und dadurch eine neue Hetzjagd veranlasst haben, wenn sich nicht ein Polizeimann – wie immer in solchen Fällen – als allerletzter eingefunden und Oliver am Kragen gepackt hätte.
»Heda, aufgestanden«, sagte der Polizist grob.
»Ich bin es doch nicht gewesen, Sir; wirklich, ich war es nicht. Es waren zwei andere Jungens«, rief Oliver entsetzt, die Hände faltend und verstört um sich blickend. »Irgendwo hier herum müssen sie sich versteckt haben.«
»Na, hier herum g’wiss nicht«, sagte der Polizeimann, und wenn er seine Worte auch ironisch meinte, so hatte er doch im Allgemeinen recht, denn der Baldowerer sowie Charley Bates hatten sich längst absentiert. »Aufgestanden jetzt!«
»Tun Sie ihm nichts zu leide«, sagte der alte Herr mitleidig.
»Na na, davon kann ka Red sein«, antwortete der Polizeimann und riss Oliver fast die Jacke vom Leib. »Marsch vorwärts, dich kenn’ ich schon. Wirst gleich aufstehen, Diebslümmel.«
Mühsam erhob sich Oliver vom Boden und wurde am Kragen im schnellsten Tempo durch die Straße geschleift. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her, und jubelnd begleitete sie die Gassenjugend zum Kommissariat.
11 – Der Polizeikommissär Mr. Fang zeigt sich als außerordentlich tüchtiger Justizbeamter.
Als der Zug auf der Wache anlangte, wurde Oliver vorläufig in eine Art Keller eingesperrt, der nur so starrte vor Schmutz. Ein vierschrötiger Kerl mit einem Backenbart und einem Bündel Schlüssel in der Hand trat vor. »Was gibt’s denn schon wieder?« fragte er mürrisch.
»Ein junger Taschendieb«, antwortete der Polizist, der Oliver am Kragen hielt.
»Sind Sie der Bestohlene, Sir?« fragte der Mann mit den Schlüsseln.
»Ja«, sagte der alte Herr. »Aber ich kann nicht genau angeben, ob es auch wirklich der Junge war, der mir das Taschentuch gestohlen hat. Ich – hm – möchte am liebsten den Fall nicht weiter verfolgen.«
»Dös müssen S’ dem Herrn Kommissär sagen«, brummte der Mann. »Der Herr Kommissär wird gleich frei sein. Na, kumm amal her, kleiner Galgenvogel.«
Damit packte der Mann Oliver am Kragen und sperrte ihn in den erwähnten Keller. Es war dies eine Art Schacht, der nur so strotzte von Unrat und Schmutz.
Der alte Herr sah ebenso bekümmert aus wie Oliver selbst, als der Schlüssel im Schlosse kreischte, und warf mit einem Seufzer einen Blick auf das Buch, das die unschuldige Veranlassung zu dem ganzen Unheil gewesen war.
»Es liegt etwas in dem Gesicht des Jungen«, murmelte der alte Herr und rieb sich nachdenklich mit dem Buchdeckel das Kinn, »etwas, was mich tief ergreift und rührt. Er ist vielleicht ganz unschuldig. Aussehen tut er danach. – Übrigens«, rief der alte Herr plötzlich und sah nachdenklich zum Himmel empor, »an wen erinnern mich doch nur seine Züge?«
Eine Berührung an der Schulter weckte ihn aus seinen Betrachtungen. Gleich darauf ersuchte ihn der Mann mit den Schlüsseln ihm in die Wachtstube zu folgen. Hastig klappte der alte Herr das Buch zu und stand in der nächsten Minute vor dem berühmten Polizeikommissär Mr. Fang. »Hier mein Name und meine Adresse, Sir«, sagte er, verbeugte sich höflich und überreichte dem Gewaltigen seine Karte. Ärgerlich über die Störung blickte Mr. Fang, der soeben eine Zeitung studiert hatte, auf und fragte: »Wer sind Sie?«
Einigermaßen überrascht deutete der alte Herr auf seine Karte.
Verächtlich stieß der Kommissär die Karte zurück. »Gerichtsdiener, lesen Sie, wer dieser Mensch ist.«
»Ich heiße Brownlow«, fiel der alte Herr mit einer Höflichkeit, die stark von der Grobheit des Polizeibeamten abstach, ein, »Sie werden wohl gestatten, dass ich mich nach dem Namen des Gerichtsbeamten erkundige, der einem achtbaren Bürger ohne jede Veranlassung in diesem Lokal Beleidigungen ins Gesicht wirft.«
»Gerichtsdiener«, rief Mr. Fang und legte seine Zeitung weg, »was liegt gegen den Menschen vor?«
»Gegen ihn nichts, Euer Gnaden«, erwiderte der Diener. »Er ist der Ankläger dieses Jungen.«
»So, dieses Jungen, so«, sagte Mr. Fang und musterte Mr. Brownlow von Kopf bis zu Füßen verächtlich. »Beeidigen Sie ihn.«
»Ehe man mich vereidigt, muss ich bitten, die Sache erklären zu dürfen«, protestierte Mr. Brownlow. »Ich würde niemals geglaubt haben, wenn es mir nicht selbst widerfahren wäre, dass -«
»Halten Sie den Mund«, rief Mr. Fang gebieterisch.
»Das werde ich nicht tun, Sir«, opponierte der alte Herr.
»Sie schweigen augenblicklich, oder ich lasse Sie hinauswerfen«, schrie Mr. Fang. »Sie sind ein unverschämter frecher Kerl. Wie können Sie sich erdreisten, in dieser Weise mit mir zu sprechen!«
»Was!« rief der alte Herr, vor Zorn errötend.
»Vereidigen Sie den Kerl!« befahl Mr. Fang. »Ich will weiter nichts hören.«
Mr. Brownlow war aufs äußerste entrüstet, überlegte sich aber, dass er Oliver nur schaden müsse, wenn er weiter so energisch auftrete, unterdrückte daher seinen Ärger und ließ sich ruhig vereidigen.
»Nun«, fragte Mr. Fang, »was liegt gegen den Burschen vor? Was haben Sie vorzubringen, Sir?«
»Ich stand vor einem Bücherladen«, begann Mr. Brownlow.
»Halten Sie den Mund«, rief Mr. Fang. »Wo ist der Wachmann? So. Hier. Beeidigen Sie den Wachmann. Also, Wachmann, was hat’s gegeben?«
Der Polizeimann berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, wie er Oliver verhaftet, durchsucht, aber nichts bei ihm gefunden habe, und wie alles weiter gekommen sei.
»Sind Zeugen da?« fragte Mr. Fang.
»Nein, Euer Gnaden.«
Einige Minuten saß der Kommissär schweigend da, dann wandte er sich zu Mr. Brownlow und sagte mit steigendem Ärger:
»Wollen Sie jetzt hier aussagen, was Sie