»Hallo, Spatz, auf der Walze?« fragte der seltsame junge Gentleman Oliver abermals.
»Ich bin furchtbar hungrig und müde«, antwortete Oliver, während ihm die Tränen in die Augen traten. »Ich habe einen langen Marsch hinter mir, einen Marsch von sieben Tagen.«
»Was? Sieben Tag auf der Walze?« rief der junge Gentleman. »Aha, weiß schon. Wir haben was gerochen auf der Polizei, was? Der Balhochem hat was gerochen. Du weißt wohl nich, was ’n Balhochem is, was, du Greenhorn?« setzte er hinzu, als er Olivers verwunderten Blick bemerkte. Oliver verneinte.
»Na ja, du Greenhorn«, rief der junge Gentleman, »’n Balhochem ist doch ’n Poliziste. Mir scheint, du bist noch nie in der Mühle gewesen.«
»In was für einer Mühle?« fragte Oliver.
»In was für ner Mühle? Na, die Mühle, in der die Leute umsonst arbeiten – na, das Gefängnis mein’ ich.« Als er bemerkte, dass Oliver nicht verstand, fuhr er fort: »Aber mir scheint, du hast Hunger, Mesinung hab’ ich zwar selber keins, aber wir werd’ns schon machen. Steh auf und komm.« Hierauf brachte der wackre junge Herr Oliver, nachdem er ihm hatte aufstehen helfen, vor einen Krämerladen, in dem er Brot und Schinken kaufte und Oliver davon essen ließ.
»Nach London?« fragte er, nachdem Oliver sich ein wenig gesättigt.
»Ja.«
»Hast du eine Stranzen?«
»Was ist das?«
»Na, ne Wohnung.«
»Nein.«
»Mesummes?«
Oliver machte ein fragendes Gesicht.
»Geld mein’ ich.«
»Nein.«
Der junge Gentleman versenkte seine Hände in seine Taschen und pfiff durch die Zähne.
»Wohnen Sie in London«, fragte Oliver.
»Ja, wenn ich daheim bin. Aber mir scheint, du weißt gar nicht, wo du heut nacht schlafen willst.«
»Nein«, gab Oliver zu. »Ich hab’ schon seit sieben Nächten kein Dach über dem Kopf gehabt.«
»Mach’ dir keine Sorgen deshalb«, tröstete ihn der junge Herr. »Ich geh’ heut abend auch nach London. Ich kenn’ da einen ehrbaren alten Herrn, der wird dir bald ne gute Stelle verschaffen, – das heißt natürlich, wenn dich ’n Schentlman, wo ihn kennt, einführt bei ihm. Auf mir hält er große Stücke«, setzte der junge Gentleman lächelnd hinzu.
Das Anerbieten war so verlockend, dass Oliver keinen Augenblick zögerte, einzuschlagen. Er wurde bald zutraulicher und erfuhr, dass sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und der ausgesprochene Liebling des erwähnten alten Gentlemans sei. Jacks Äußeres freilich sprach nicht zugunsten der Lieblinge des erwähnten alten Ehrenmannes, aber da er sehr großmäulig tat und selbst von sich behauptete, man kenne ihn weit und breit als einen »verdammt gerissenen Baldowerer«, schloss Oliver, der alte Herr spräche in diesem Falle wohl gute Ratschläge in den Wind. Unter diesem Eindruck fasste er heimlich den Entschluss, sich bei dem alten Philantropen so bald wie möglich in ein besseres Licht zu setzen und, falls Jack Dawkins, wie er befürchtete, einer Besserung nicht zugänglich sein sollte, auf die Ehre weiterer Bekanntschaft mit ihm zu verzichten.
Da Jack sich unbedingt weigerte, London vor Einbruch der Nacht zu betreten, schlug es elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Vom »Engel« aus gingen sie nach St. Jones Road, die kleine Gasse, die bei Sadlers Walls Theater endigt, hinab und gelangten durch Exmouth Street und Coppile Row in den kleinen Hof neben dem Arbeitshaus. Dann schritten sie über den klassischen Grund und Boden, der einstmals den Namen Hockley-in-the-Hole führte, und gelangten nach Little und Great Saffron Hill, von wo aus der kuriose junge Gentleman sich in einen Galopp versetzte, wobei Oliver ihm auf den Fersen folgen musste.
Von dem ungewohnten Anblick einer großen Stadt ganz und gar in Anspruch genommen, musste Oliver sein Möglichstes tun, um seinen Führer nicht aus dem Gesicht zu verlieren. Einen schmutzigeren und verkommeneren Platz hatte Oliver noch nie gesehen. Die Straße war eng und voll Schmutz und die Luft gesättigt von den widerlichsten Gerüchen. Kleine Laden gab es hier in Menge, aber ganze Haufen von Kindern, die jetzt selbst zur Nachtzeit noch bei den Türen aus- und einkrochen oder drinnen in den Häusern quiekten und schrien, schienen der einzige Inhalt der Geschäfte zu sein. Die einzigen Unternehmungen, die wirklich zu gedeihen schienen, waren die Schenken, denn dort prügelte sich irischer Pöbel, was das Zeug halten wollte. Gedeckte Torwege und Höfe, die da und dort von den Hauptstraßen abzweigten, ließen Knäuel von Häusern sehen, wo sich betrunkene Männer und Frauen nur so wälzten. Aus den Torwegen kamen scheublickende Individuen herausgeschlichen und verloren sich gleich darauf wieder im Dunkel. Eben überlegte Oliver noch, ob es nicht am besten sei, wegzulaufen, da gelangte er mit seinem Begleiter vor einer Anhöhe an und wurde von ihm am Ärmel gefasst. Dann stieß Jack eine Haustüre auf, nicht weit von Field Lane, zog Oliver in einen Korridor und schloss gleich darauf das Tor wieder hinter sich zu.
»Wer da?« rief eine Stimme von unten als Antwort auf einen Pfiff, den der junge Herr hatte ertönen lassen.
»Reiner Wind«, war die Antwort. Es schien das eine Art Losungswort zu sein, dass die Luft rein sei. Gleich darauf warf das Licht einer kleinen Kerze seinen Schein auf die Mauer vom rückwärtigen Ende des Ganges aus, und das Gesicht eines Mannes lugte durch eine Spalte einer alten Türe hervor, aus der ein Teil der Füllung herausgebrochen war.
»Da sind ja zwei«, sagte der Mann und beschattete das Licht mit der Hand, um besser sehen zu können. »Wer ist der andere?«
»Ein junges Beindl«, antwortete Jack Dawkins und zeigte auf Oliver.
»Woher?«
»’n Greenhorn. Ist Fagin oben?«
»Sortiert die Riegenlappen.