»Darf ich Sie begleiten?« fragte der Buchhändler mit einem Blick in den Wagen.
»Selbstverständlich, lieber Herr«, sagte Mr. Brownlow. »Ich habe ganz auf Sie vergessen. O Gott, o Gott, immer noch habe ich das unglückselige Buch in der Hand. So steigen Sie doch ein! Der arme Junge, der arme Junge, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Der Buchhändler stieg in den Wagen, und die Droschke fuhr davon.
12 – Oliver findet eine bessere Pflege als je zuvor, und unsere Geschichte kehrt wieder zu dem menschenfreundlichen Mr. Fagin und seinen jungen Schützlingen zurück.
Der Wagen rasselte davon, fast auf demselben Weg, den Oliver durchwandert hatte, als er in der Gesellschaft des Baldowerers zum ersten Mal London betreten, erreichte dann den »Engel« in Islington und hielt schließlich vor einem hübschen saubern Haus in einer stillen schattigen Straße in der Nähe von Pentonville. Hier brachte Mr. Brownlow seinen jungen Schützling sofort zu Bett und ließ ihm eine Pflege und Behandlung angedeihen, – so liebvoll, wie dieser sie noch nie im Leben gehabt hatte.
Eine ganze Woche verging, und immer noch lag Oliver fiebernd und fantasierend auf seinem Lager. Schwach, abgemagert und bleich erwachte er endlich aus einem Schlaf, der ein langer quälender Traum gewesen zu sein schien. Matt erhob er sich in seinem Bett und sah sich ängstlich um.
»Wo bin ich? Wo hat man mich hingebracht?« fragte er. »Das ist doch nicht der Ort, wo ich umgefallen bin.«
Eilig wurde der Vorhang am Kopfende des Bettes zurückgezogen, und eine mütterlich aussehende alte Dame stand auf und beugte sich über ihn.
»Still, still, Kind«, flüsterte sie. »Du musst dich ruhig verhalten, sonst wirst du wieder krank. Du warst schon nahe am Tode, denk bloß. Leg dich nur wieder hin – komm, sei ein liebes Kind.«
Mit diesen Worten legte die alte Dame Olivers Kopf zurück, strich ihm das Haar aus der Stirn und sah ihm so menschenfreundlich ins Gesicht, dass er seine abgezehrte Hand in die ihre legen und ihren Arm um seinen Hals schlingen musste.
»O du lieber Himmel«, rief die alte Dame mit tränenden Augen, »was das für ein dankbares kleines Wesen ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so neben ihm säße, wie ich jetzt, und ihn sehen könnte.«
»Vielleicht sieht sie mich«, hauchte Oliver die Hände faltend. »Vielleicht hat sie bei mir gesessen die ganze Zeit über. Ich glaube wirklich, es war so.«
»Du hast gefiebert, Kind«, sagte die alte Dame milde.
»Ich glaube auch, ich habe gefiebert«, antwortete Oliver. »Der Himmel ist doch so weit weg, und sie sind so glücklich dort, – viel zu glücklich, um an das Bett eines armen Jungen zu kommen. Aber wenn sie gewusst hat, dass ich krank war, so muss es ihr sehr nahe gegangen sein, denn sie war ja auch sehr krank, ehe sie starb. Aber sie kann doch nicht gut etwas von mir wissen«, setzte er nach einer Weile hinzu. »Hätte sie gesehen, was man mir angetan hat, so wäre sie betrübt darüber gewesen. Und sie hat doch so glücklich ausgesehen, so oft ich von ihr träumte.«
Die alte Dame gab keine Antwort, wischte sich nur die Augen und dann die Brille ab, die sie auf die Bettdecke gelegt hatte – ganz so, als ob die Brille und ihre Augen unbedingt zusammengehörten -, dann brachte sie Oliver ein beruhigendes Getränk, tätschelte ihm die Wange und sagte ihm, er müsse sehr ruhig liegen, damit er nicht wieder krank werde.
Oliver gehorchte sofort, teils, weil er um alles in der Welt die gute alte Dame nicht gekränkt hätte, und dann auch, weil ihn die wenigen Worte, die er gesprochen, wirklich vollständig erschöpft hatten. Er verfiel bald in eine Art Halbschlummer, aus dem er erst durch den Schein einer Kerze geweckt wurde, die ihm, in die Nähe des Bettes gebracht, einen Herrn zeigte, der in der einen Hand eine Uhr hielt und mit der anderen seinen Puls befühlte und dann behauptete, dass es ihm schon weit besser ginge.
»Es geht dir doch auch besser, nicht wahr, Kind?« fragte der Herr.
»Ja, ich danke, Sir«, erwiderte Oliver.
»Natürlich, ich weiß doch, dass es dir besser geht«, sagte der Doktor. »Du bist auch selbstverständlich hungrig.«
»Nein, Sir«, antwortete Oliver.
»Hm«, flüsterte der Arzt. »Nein? Natürlich ja; ich weiß doch, dass du gar nicht hungrig bist. Er ist nicht hungrig, Mrs. Bedwin«, sagte er dann und legte seine Stirn in tiefe Weisheitsfalten.
Die alte Dame machte eine achtungsvolle Verbeugung, die besagen sollte, dass sie den Doktor für einen ungemein gescheiten Herrn halte. Der Doktor schien von sich selbstverständlich die gleiche Ansicht zu haben.
»Du bist also schläfrig, nicht wahr, Kind?« fragte er weiter.
»Nein«, antwortete Oliver.
»Nein«, sagte der Doktor mit pfiffiger Miene, »du bist nicht schläfrig. Auch nicht durstig natürlich, wie?«
»Doch, Sir, ziemlich durstig«, antwortete Oliver.
»Ganz wie ich erwartete, Mrs. Bedwin«, sagte der Arzt, »selbstverständlich muss er durstig sein. Sie können ihm ein wenig Tee geben, liebe Mrs. Bedwin, und etwas trocknes Brot, aber ja keine Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Mrs. Bedwin, geben Sie aber auch acht, dass er nicht friert. Werden Sie sich das alles merken?«
Die Dame knixte. Der Arzt kostete das kühlende Getränk, sprach seine Billigung darüber aus und schritt von dannen. Seine Stiefel knarrten, wie er die Treppe hinunterstieg, sehr laut und verrieten, was für eine hochwichtige Person in ihnen stack.
Oliver schlummerte wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe zwölf Uhr. Zärtlich sagte ihm die alte Dame Gute Nacht und übergab ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben eingetreten war mit einem kleinen Bündel und darin einem dünnen Gebetbuch und einer bauschigen Nachtmütze. Als sie letztere auf den Kopf gesetzt und ersteres neben sich auf den Tisch gelegt, erzählte sie Oliver, sie sei hergekommen, um bei ihm zu wachen. Dann zog sie ihren Stuhl an den Kamin und schlief ein. Wachte auch nicht mehr auf, höchstens für eine Sekunde, wenn sie vor Schnarchen beinahe erstickte. Aber jedes Mal rieb sie sich dann tüchtig die Nase und schien weiter keinen Schaden genommen zu haben.
So verging langsam die Nacht. Eine Zeit lag Oliver wach, dann fing er an, die kleinen Lichtkreise zu zählen die der Lampenschirm auf die Decke warf, oder verfolgte mit müdem Blick das verworrene Tapetenmuster. Bei dem Düster und der feierlichen Stille, die in der Stube herrschten, drängten sich ihm die Gedanken auf, wie viel Tage und Nächte der Tod hier gespuckt haben mochte, und dass er vielleicht jetzt noch das Zimmer mit der