Dann wieder schnürte eine große Bangigkeit Rosa das Herz zusammen. Ambrosius’ lüstern-süßes Lächeln in diesem Kindergesicht erschien ihr wie eine Gefahr für das Kind. Wurde es dadurch nicht der bösen Welt nähergebracht? Störte es nicht den Kindesfrieden? Großes Mitleid ergriff Rosa, Mitleid für den kleinen Märtyrer, der nicht ahnte, was seiner harrte. Ach Gott, blieb das Kind doch immer so klein, dass sie es vor dem feindlichen Leben schützen könnte. Doch Rosa lächelte über ihre eignen Gedanken. Noch hatte das Kleine viele Jahre in ihren Armen Raum, und niemand durfte es kränken. Es sollte glücklich sein und oft – oft lächeln, wenn es auch Ambrosius’ Lächeln war!
Während der folgenden Nacht musste Rosa das Kind beständig auf ihren Armen wiegen, denn es schrie und jammerte kläglich. Plötzlich wurden die Glieder des Kindes steif, das Gesicht nahm eine blaurote Farbe an, und der Kopf wurde krampfhaft zurückgerissen. Anfangs war Rosa starr vor Schreck, dann rief sie nach Frau Böhk, nach einem warmen Bade. Eine zielbewusste Geschäftigkeit trat an die Stelle des ersten Schreckens und ließ für die Sorge kaum Raum übrig. Erst als das Kind wieder ruhig auf den Knien seiner Mutter schlief, fühlte diese am Beben ihres ganzen Wesens, wie furchtbar es sie erschüttert hatte, ihr Kind leiden zu sehen. Bleich und ernst auf das Kind niedergebeugt, saß sie noch da, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Frau Böhk trat in das Zimmer. »Jetzt scheint es vorüber zu sein. Gott sei Dank«, sagte sie und setzte sich auf einen Stuhl.
»Ja«, erwiderte Rosa, »es schläft ruhig. Wir wollen leise sprechen, damit es nicht erwacht.«
Frau Böhk lachte. »Ach was, das stört so ’n kleinen Kerl nicht. Von der Stimme der Böhk ist noch kein Kind aufgeweckt worden, will ich meinen. Aber«, fügte sie hinzu und rieb sich bedächtig die Schenkel, »ich wollte Sie fragen, liebes Kind, wie wird es mit der Taufe? Morgen ist Sonntag; da haben wir den Pfarrer.«
»Hat denn das Eile?« fragte Rosa erstaunt. »Agnes wollte kommen; und dann…«
»Gut, gut! Ich verstehe schon. Ich meine aber gerade, wir können nicht warten.«
»Wie?«
»Verstehen Sie mich recht, liebes Fräulein.«
Frau Böhk machte ein strenges, höfliches Gesicht. »Das Kind hat in voriger Nacht böse Krämpfe gehabt und ist überhaupt ein verteufelt zartes Würmchen. Jedem Menschen kann etwas zustoßen, wie viel mehr einem so schwachen Kinde. Nicht? – Ich habe nun darauf zu sehen, dass ein Kind getauft ist, wenn etwas passiert. Dafür werde ich verantwortlich gemacht, niemand anderes. Von der Taufe ist auch noch kein Kind gestorben.«
Rosa hatte ernst zugehört, nun schaute sie auf ihr Kind nieder, das ruhig in ihren Armen schlummerte. Sie lächelte. »Nein, Frau Böhk«, sagte sie. »Das wird es nicht tun, das nicht! Sterben kann es nicht.«
Ungeduldig erhob sich Frau Böhk. »Kann – kann! Warum kann es nicht? Wir alle können heute oder morgen sterben. Ich sage nur: Die Verantwortung hab ich zu tragen. An mich muss ich auch denken.«
»Ich habe ja nichts dagegen, dass morgen die Taufe ist«, beschwichtigte Rosa die Hebamme. »Herr Böhk ist vielleicht so gut, der Pate des Kleinen zu sein. Ich sage nur…«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, rief Frau Böhk erleichtert aus. »Der Pfarrer kommt ohnehin nur alle vierzehn Tage vom Schloss zu uns herüber, dem Kinde wird’s auch guttun, ein Christ zu werden. Hernach trinken wir Schokolade. Das muss so sein; das ist selbstverständlich. Ich besorge schon das nötige, später berechnen wir uns. Die Leb hab ich auch eingeladen. – Sie sind ein liebes, vernünftiges Kind.«
Als Frau Böhk fort war, blickte Rosa sinnend ihr Kind an. Die Hebamme hatte sie erschreckt. So etwas war nicht möglich! Dieses arme, zarte Kindchen und eine so grausame, finstere Sache wie der Tod, was konnten die gemein haben? »Nein, das tust du nicht, mein Engel! Das werd ich dir nie erlauben«, flüsterte sie.
Der Sonntagnachmittag war für die Familie Böhk voll großer Geschäftigkeit. Schon das Aufsetzen der Haube mit den gelben Bändern, die Frau Böhk nur an Tauftagen aus dem Kasten nahm, war ein Ereignis. Herr Böhk, als der Welterfahrenste, besorgte das. »Sitz still, Frau Böhk!« befahl er. »Die eine Seite mit der großen Rose muss zurückgeschoben werden, sonst sieht es steif aus. Eine Haube muss ein wenig schief sitzen, nicht gerade wie eine Nachtmütze. Nein, ein wenig, wie soll ich sagen? Ein wenig liederlich muss es aussehen; so – so – ›Komm und küsse mich‹ – verstehst du?«
»Böhk, Böhk!« mahnte die Hebamme. »Dass du mich nicht ganz gottlos herrichtest!«
»Nein, Wilhelmine!« erwiderte Herr Böhk überlegen. »Du kannst ruhig sein. Für die Würde ist gesorgt, aber auch für die Schönheit. So, jetzt siehst du gut aus, blühend – gelb und rot.«
Für sich holte Herr Böhk einen Frack, weiße Handschuhe und einen Zylinder aus dem Kasten. Er war stolz auf diese Sachen. Die Schöße des Frackes vorsichtig in der Hand haltend, ging er mit ausgebogener Taille feierlich im Zimmer auf und ab, gefolgt von seinem Sohn, der über die Kleidung des Vaters spottete. »Wie dumm das ist, so ’n Frack.«
»Dumm?« erwiderte Herr Böhk hochmütig. »Der Frack ist hier nicht der Dumme.«
»Da fehlt ja vorne was!«
»Lieber Hans, dir fehlt etwas.«
Dieses Mal nahm Frau Böhk die Partei ihres Mannes. »Lass ihn, Hans, du verstehst wirklich nichts davon.« Sie hegte selbst große Achtung vor diesem Kleidungsstück.
Endlich war alles bereit, man wollte jedoch noch warten, bis der Gottesdienst ausgeläutet wurde, um das Gedränge zu vermeiden. Rosa hielt das Kind auf dem Schoß. Sie trug heute ihr weißes Musselinkleid und weiße Rosen im Haar. Wer sie dasitzen sah mit dem erregten blassen Gesicht, hätte sie für ein kleines Mädchen gehalten, das man zur Einsegnung führt.
»Also das Kind wird Ernst nach Ihrem Herrn Papa und Arnold nach mir heißen?« fragte Herr Böhk und blieb vor dem Täufling stehen. Rosa nickte. Da beugte er sich auf das Kind herab und sagte gerührt: »Was machst du, kleines Arnoldchen?«
Als die Kirchenglocken zu läuten begannen, machte sich die Taufgesellschaft auf den Weg. Sie hatte es nicht weit; links hinter dem Böhkschen Hause lag die Kirche auf einer Anhöhe, dicht von alten Ahornbäumen umgeben. Sie war ein achteckiger Pavillon ohne Turm. Das flache Land und die Nähe der See ließen befürchten, ein Turm könnte die Schiffe irreleiten.
Der Gottesdienst war zu Ende. Eine große Menschenmenge bewegte sich die Anhöhe herab.
In der lichtvollen Atmosphäre des Julitages