Er warf einen prüfenden Blick auf Rosa, fasste seinen Talar vorn zusammen und ging voran in die Kirche.
Auf Frau Böhks Anordnung musste Rosa sich in einen Kirchenstuhl setzen, während die anderen mit dem Kinde vor dem Altar standen. Durch die hohen Fenster schien die Sonne voll herein und badete die Holzgalerie des Chors, die vergoldeten Holzblumen des Altarblattes in gelbem Licht.
Auf dem Altar funkelten der Kelch und die Leuchter; überall ein reges Glimmen und Flimmern. In den Kirchenstühlen lagen welkende Jasminstengel und Feldblumen, die Kinder und Mädchen mit hereingenommen und dort vergessen hatten. Eine Schwalbe hatte sich in die Kirche hineinverirrt und zog ihre Kreise oben an der gewölbten Decke, kurze sanfte Rufe ausstoßend.
Herr Böhk ließ sich das Kind auf die Arme legen; Frau Böhk, Grethe, die Leb standen andächtig mit gefalteten Händen neben ihm. Der Pfarrer blätterte in einem Buch und zog das Gesicht in fette Falten, weil die Sonne ihm in die Augen schien. Das Kind wimmerte – ein leiser Ton, wie das Zwitschern der Schwalbe oben an der Wölbung. Hinter sich hörte Rosa vorsichtige Schritte auf den Fliesen. Die Leute kamen von draußen wieder in die Kirche, standen an den Kirchenstühlen und hörten zu. Jetzt war der Pfarrer bereit. Er wischte sich mit zwei Fingern die Mundwinkel und hielt eine kurze Anrede, leise und schnell sprechend, wie jemand, der bald fertig zu sein wünscht. Er machte die Eltern und Taufpaten darauf aufmerksam, dass ein Kind ein teures, ihnen anvertrautes Gut sei, über das sie einst Rechenschaft ablegen müssen. Nicht den Eltern gehöre das Kind, sondern Gott, und Gott wache eifersüchtig über sein Eigentum, wie der Bibelspruch es schon besage: »Bei deinem Namen habe ich dich gerufen, in meine Hände hab ich dich gezeichnet, du bist mein.«
Rosa entsann sich nicht, dass bisher eine kirchliche Handlung auf sie großen Eindruck gemacht hätte. Das Frösteln unter der kühlen Kirchenwölbung war für sie stets der Inbegriff der Andacht gewesen. Heute aber erregte die Stimme des Pfarrers in ihr ernste Rührung. All die frommen Worte wurden ja zu ihrem Kinde gesprochen, hatte auf dieses Bezug. Es freute sie zu hören, dass ein so allmächtiger Beschützer sich ihres Kindes annahm, ihr half, es zu verteidigen. Dafür nahm Rosa sich vor, recht fromm zu sein, alles zu tun, wovon der Pfarrer Raser im Konfirmationsunterricht gesagt hatte, dass Gott es von den Menschen verlange. Wenn Gott nur auf das Kleine recht Obacht geben würde.
Der Pfarrer schwieg. Frau Böhk nestelte dem Kinde das Häubchen auf, und die Taufe begann. Alle sprachen das Credo; der Pfarrer eilte mit seiner routinierten Stimme voraus, Herr Böhk, der Pathos hineinlegen wollte, blieb stets um einen Satz zurück, bis seine Frau ihn mit dem Ellenbogen in die Seite stieß; da schwieg er ärgerlich ganz. Nun war es zu Ende. Der Pfarrer ging ohne Gruß fort, er fürchtete, zu spät zum Diner zu kommen.
»Den Taufschein und das übrige besorge ich morgen«, meinte er.
Die anderen gingen auch heim.
Über die Wiese waren zahlreiche Spaziergänger verteilt, viele bunte Punkte, die sich bewegten und durcheinanderrannten. Tiglau lag ganz im Laub versteckt da, und über alldem webte ein bläulicher Dunst, der zu leben schien, blickte man hinein.
Gemütlich, mit kleinen Schritten, ging die Taufgesellschaft heim. Herr Böhk erzählte seine Erlebnisse: Er hatte gefürchtet, das Kind fallen zu lassen. Der Pfarrer hatte ihm den Frack mit Taufwasser besprengt. Die Leb fand die heilige Handlung sehr erbaulich, was Herr Böhk bestritt.
»Das Glaubensbekenntnis schleuderte er nur so hin.«
Frau Böhk zuckte die Achseln.
»Es war heute gerade so wie immer«, sagte sie.
Für sie, die so viele Taufen mitgemacht hatte, war eine Taufe kein Ereignis mehr.
Zu Hause trank man Schokolade. Frau Böhk und Grethe nestelten sich die engen Feiertagsjacken auf. Herr Böhk steckte sich eine Serviette hinter den Hemdkragen.
»Du solltest den Frack lieber ausziehen«, riet seine Frau.
Er entgegnete jedoch sehr gereizt: »Warum? Lass mich doch.«
Er fand so selten Gelegenheit, den Frack anzulegen; jetzt, da sie sich bot, wollte er sie ausnutzen.
»Sehr gut«, meinte die Leb und nickte ihrer Tasse zu. »Auch der Stollen ist gut. Zuweilen gelingt es dem Bäcker. Der Arme! Weiß Gott, wen er heiraten wird! Denn heiraten muss er – mit so vielen kleinen Kindern.«
Nun sprach man von der Bäckerin. Ein jeder gab zwischen einem Schluck Schokolade und einem Bissen Stollen seine Meinung ab. Durch die geöffneten Fenster sah man auf den stillen Hof und den Garten hinaus, wo Feuerlilien und einige Rosenbüsche regungslos im Abendsonnenschein standen. Von der Wiese tönten Rufe und Stimmen der sonntäglichen Spaziergänger herüber.
Rosa schwieg und ließ sich von einem angenehmen Feiertagsgefühl wiegen. Die helle Welt ringsum beruhigte sie. Hier war es behaglich und sonnig. Die rechte Welt für den kleinen Ernst. Eine lange, lichtvolle Zukunft, verloren in der stillen Ebene, ein ungestörtes Zusammensein mit ihrem Kinde, ein Leben voll warmer Liebe tat sich ihr auf und tröstete sie. Oben bei ihrem Kinde wollte sie diesen Traum weiterträumen.
»Ah, Sie gehen zu unserem jungen Christen?« fragte die Leb gefühlvoll.
»Arnoldchen wird wohl schlafen«, fügte Herr Böhk hinzu.
»Ernst wird er genannt«, verbesserte Grethe.
Herr Böhk aber machte eine wegwerfende Handbewegung. Er wusste wohl, was er tat. Er war der Pate, er nannte das Kind Arnold; die anderen konnten es halten, wie sie wollten, für ihn gab es keinen Ernst.
In ihrer Kammer drückte Rosa das Kind fest an ihre Brust und sprach ihm leise zu:
»Weine nicht. Hörtest du nicht, wie der Herr Pfarrer sagte, dass der liebe Gott mir hilft, dich bewachen! Sei nur ruhig, groß und schön wirst du werden. Du wirst niemanden betrügen. Du wirst zu lieben verstehen – wirst deine alte Mutter sehr – sehr treu lieben, denn sie hat es nötig. Du wirst von allem Garstigen, das sie erlebt hat, nichts wissen, und wenn du bei ihr bist, wird sie alles, was sie getan und ihr andere angetan, vergessen. Nicht wahr?«
Viertes Kapitel
Auf die Taufe folgten böse Tage für Ernst und seine Mutter. Die Krämpfe wiederholten sich. Das Kind magerte ab und befand sich in einem besorglichen Zustand der Schwäche. Der Arzt vom Schloss ward herbeigerufen, denn in Tiglau selbst wohnte keiner.