»So! Jetzt sind wir daheim«, sagte Martha, als sie im Flur des Böhkschen Hauses standen. Rosa stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinan, sie ward aber zurückgehalten. Martha hatte Rosas Hand ergriffen und ihre Lippen fest daraufgedrückt. »Mit Ihnen, Fräulein, plaudert’s sich so gut«, meinte sie. An der Hoftüre aber lehnte schon Peters breite Gestalt; er streckte die Arme aus und griff nach den kühlen, von Schneeflocken feuchten Wangen seines Mädchens.
Während Rosa die Treppe hinanstieg, fühlte sie sich angenehm erregt. Die Schönheit der abendlichen Welt, alles, was sie gehört und gesehen, endlich Marthas warme Zärtlichkeit ließen Rosas gereiztes, gequältes Herz schneller pochen. Oben jedoch, in der schweigsamen Dunkelheit ihrer Kammer, kam der Rückschlag. Ein peinvolles Verlangen nach Lust und Glück schrie in Rosa auf. Sie wollte auch über die mondbeglänzten Dächer in grüne Birkenwäldchen eilen, um dort einen Geliebten zu finden, der sie warm – warm in die Arme schloss – – das Blut kochte in ihr, gab ihr schwüle, widrige Gedanken, die wie Fieber in ihr brannten und ihr Fleisch beben ließen.
Als Rosa zum Nachtmahl hinabging, war sie so bleich, dass alle sie verwundert anschauten; nur Frau Böhk klopfte sie auf die Schulter und meinte: »Das sind die Kindsmucken; das kennen wir.«
Viertes Kapitel
Endlich kam der Frühling. Laue Winde fuhren über Tiglau hin. Der Schnee war fort. Von den Dächern tropfte es beständig und erfüllte den Ort mit heimlichem Klingen. Die Ebene um Tiglau war blank von Wasserlachen, und auf der Gasse lag der Kot fußhoch. Frau Böhk hatte täglich während der Mahlzeiten neue Geschichten zu erzählen, von schwierigen Passagen und von den Waden der Tiglauer Frauenzimmer. Um die Zeit, da man nur hochgeschürzt über die Straße gehen konnte, erlebte Frau Böhk Wunder.
»Dass des Apothekers Elise spindeldürr ist, wusste ich längst«, sagte sie, »aber solche Beine habe ich ihr doch nicht zugemutet. Und die Schreinerin hat Säbelbeine, das habe ich auch noch nicht gewusst. – Was? Die Gertrud vom ›Roten Hirsch‹ soll hübsch sein? Ich bitte dich, Böhk, sie hat ja keine Waden – sowenig wie ich am kleinen Finger Waden habe!«
Unter dem Rinnen und Tropfen, unter dem Regen, der fein und hastig niederfiel, während die Sonne wie durch ein Glasgitter hindurchschien, begann die Erde langsam zu grünen. Durch die geöffneten Fenster brachte der Wind die angenehmen Düfte feuchter Erdschollen und junger Weidenkätzchen ins Zimmer.
Die Mädchen waren in dieser Zeit rein wie toll. Soviel Frau Böhk auch zankte, sie hielten es auf die Dauer bei keiner Arbeit mehr aus. Kaum kehrte die Tante den Rücken, so waren sie fort; weiß es Gott, wo! Nach langer Abwesenheit erst kehrten sie mit roten Backen, nassen Haaren und ausgelassenen blanken Augen zurück, besonders Martha. Sie konnte nicht mehr leben, ohne den Peter neben sich zu haben. Lief sie nicht zu ihm hinüber, so saß er gewiss in irgendeinem Winkel des Hofes und wartete auf sie.
»Im Frühjahr, wissen Sie, Fräulein, ist es immer so. Warum, weiß ich nicht«, sagte sie mit ihrem hübschen breiten Kinderlachen, »und dann, wer weiß, was dieses Jahr noch geschieht!« fügte sie ernst hinzu und seufzte so tief, dass die blaue Jacke krachte,
Rosa war leidend. Bei jeder Beschäftigung musste sie bald vor Müdigkeit die Arme sinken lassen, um sich bleich und matt auf ihr Sofa zu legen, die Glieder schwer wie Blei. Dort lag sie den Tag über. Von ihrem Lager aus sah sie durch das Fenster ein Stück des grellgrünen Landes und den Himmel, dessen Blau hell und kräftig geworden war. Wunderlich zerrissene und gezackte Wolken wurden vorübergetrieben; die einen weiß und zerbrechlich, andere massiger und mit grauem Metallglanz. Auf dem Fensterbrett stand ein Teller voller Veilchen, und gelbe Sonnenstrahlen spielten über ihn hin. Im Hause war es still, nur im Hofe krähten die Hähne unablässig.
Heute vor einem Jahr hatte die ganze traurige Geschichte noch nicht begonnen, dachte Rosa, und nun gemahnte sie alles an jene Tage, die ihr rein und glücklich schienen. Alles sah sie wieder vor sich: die Reihe der nassen Galoschen im Flur der Schankschen Schule, die Schulzimmerfenster weit offen, so dass man nach der winterlichen Abgeschlossenheit das Gefühl hatte, als würde der Unterricht auf der Straße erteilt; die Unterhaltungen mit Marianne und Sally auf den Fliesen der Treppe, während es vom Dache beständig herabregnete; Musik im Stadtgarten, wozu man den neuen Hut aufsetzte. Ja, die ganze ausgelassene, erwartungsvolle Frühlingsunruhe, die einem das Herz bis in den Hals hinauf schlagen ließ! –
Ab und zu ging Rosa in den Garten hinunter, der neben dem Speicher lag, und saß dort auf einer Schaukelbank, während Hans vor ihr ein Beet umgrub.
»So geht es nicht!« erklärte Frau Böhk eines Tages, »noch sind wir nicht so weit, dass wir zu Hause hocken müssen. Heute haben wir erst den 10. Mai. Frische Luft – Zerstreuung! – Sie bekommen ja weiße Wangen. Morgen gehen wir alle an den Bach, Krebse fangen. Die Leb kommt auch mit. Sie müssen dabeisein. Ich sehe schon darauf, dass es Ihnen nichts schadet. Nur nicht die Courage verloren, das taugt nichts.«
Von diesem Krebsfang sprach Herr Böhk schon viele Wochen. Er und Hans beschäftigten sich mehrere Tage damit, die runden Netze an die Stecken zu binden, und überwachten eifersüchtig die Fleischabfälle der Küche, um sie als Köder für die Krebse zu verwenden.
Spät am Nachmittage brach man zum Birkenwäldchen auf. Die Mädchen, Herr Böhk und Hans trugen die Geräte voraus. Frau Böhk führte Rosa. Frau Leb ging nebenher und trug den Eßkorb. Sie war eine kleine, sehr dürre Frau mit einem bleichen, verkümmerten Gesicht, rotgeränderten Augenlidern und einer verschnupften Nase. Sie trug ein schwarzes Kleid, und auf dem spärlichen rotbraunen Haar saß eine verstaubte Haube aus schwarzen Baumwollspitzen. Sie sprach ununterbrochen. Frau Böhk hatte ihr soviel von dem Fräulein erzählt, aber so hübsch hatte sie es sich doch nicht vorgestellt. Wann war der Termin? Ende Juni – so – so –, da wird die Leb wohl auch helfen müssen. Die Leb half immer bei solchen Gelegenheiten, denn Frau Böhk war so beschäftigt, dass sie ihre Kranken oft verlassen musste.
Über die Ebene fuhren eilige Wolkenschatten hin. Rechts von Tiglau lag die Landstraße, von Pappeln eingefasst, die schmal und dunkel in all dem Lichte standen. Mitten auf der Wiese stand das Birkenwäldchen, ein luftiger grüner Nebel.
Die andern waren weit voraus. Martha und Grethe in ihren weiten blauen Röcken wiegten sich sachte in den Hüften und trugen die Stangen und Netze auf den Schultern. Herr Böhk hob sich unendlich