»Freilich!« erklärte Martha, »der Onkel hat den ganzen Morgen über die Nase über den Suppentopf gehalten.«
»Martha«, ermahnte Herr Böhk sanft, »das ist nicht wahr. Du solltest über deinen Pflegevater nicht solche Lügen verbreiten.«
Als ein jeder seine Suppe hatte, ward es still. Nur ein wohliges Schlürfen und das Aufklappen der Löffel waren vernehmbar. Eine begeisterte Eßlust beseelte die Tischgenossen. Die Mädchen, wenn sie den vollen Löffel hoben, öffneten die breiten roten Lippen ganz weit und zuckten mit den Wimpern. Hans stützte sein Kinn auf den Tellerrand und warf die Suppe mit dem Löffel schnell und gierig in den Mund. – Nun waren die Teller leer – so leer, dass kein Tröpfchen zurückgeblieben war. Martha holte die Fleischspeise: geräuchertes Schaffleisch mit weißen Bohnen – und sie lächelte feierlich, als sie die Schüssel voll dunkelroter Fleischstücke ins Zimmer trug und mit beiden Armen emporhob.
»Für das Fräulein muss gebratenes Rindfleisch da sein«, verkündete Frau Böhk. »Rauchfleisch ist nichts für uns«, fügte sie sanft hinzu und strich Rosa mit der Hand über das Haar. »Wir müssen vernünftig sein.« Grethe blickte erschrocken und mitleidig auf Rosa, als fürchtete sie, Rosa würde weinen.
Ebenso andächtig wie die Suppe ward auch das Fleisch verzehrt. Frau Böhk und die Mädchen zerteilten mit liebkosender Langsamkeit das Fleisch und schoben es vorsichtig in den Mund. Unter den Herren jedoch entstand Lärm. »Mutter! Er nimmt mein Stück; ich hatte es mir ausgesucht!« klagte Hans.
»Was heißt ausgesucht«, protestierte Herr Böhk ernstlich böse; »was einer hat, das hat er.«
»Nein! Gerade dieses Stück wollte ich haben. Mutter, sag ihm, dass er’s mir gibt.«
Herr Böhk lachte verlegen. Er fürchtete, vor Rosa lächerlich zu erscheinen, und wollte doch sein Stück nicht fahrenlassen: »Nein, mein Sohn!« meinte er, »jetzt gerade nicht. Der Erziehung wegen – weißt du. Es ist ja unmoralisch.«
»Und nur weil ich es wollte, nimmt er’s!« wiederholte Hans. Ärgerlich blickte Frau Böhk von ihrem Teller auf: »Könnt ihr Jungen denn nicht Ruhe halten? Böhk, du bist der ältere, gib doch nach.«
»Der ältere! Natürlich bin ich der ältere!« Herr Böhk war tief verletzt: »Ich möchte wissen, wo der da wär, wenn ich nicht der ältere wäre! Sonst muss der Sohn den Vater ehren, aber hier – nein – da muss der Vater dem Sohn gehorchen. Bitte, lieber Hans, nimm das Stück; sei so gut und sage mir, bitte, ob du später noch eins nehmen wirst, damit ich dir nicht dein Stück fortnehme. Oder soll ich vielleicht gar nicht essen und warten, bis du fertig bist? Sag mir das, mein süßer Hans.«
»Gib mir das Stück.«
»Nimm es! Es ist ein Skandal.«
Frau Böhk hatte sich längst wieder ihrer Portion zugewandt, sie wollte sich von diesen dummen Geschichten nicht stören lassen.
Die Mahlzeit war endlich beendet. Erhitzt lehnten sich die Tischgenossen in ihren Stühlen zurück. Die Mädchen zögerten noch mit dem Abräumen und blieben sitzen, die Arme auf den Tisch gestützt. Frau Böhk trank Bier und sprach dabei zwischen jedem Zuge aus dem Glase einen kurzen Satz: Agnes war alt geworden – nicht wahr? Sie – Frau Böhk – musste sich doch gewiss mehr plagen, aber sie war kräftiger. Immer auf dem Posten sein, wie ein Soldat, das erhält. Herr Böhk knetete Enten aus Brot, und Hans schaute ihm gespannt zu. Eine behagliche Mattigkeit beschwerte sie alle, wie sie da saßen unter den Speiseresten und Geräten – im gelben Licht der Mittagssonne.
»Nun, Mädchen, werdet ihr nicht ans Abräumen gehen?« mahnte Frau Böhk. »Man wird wohl müssen«, erwiderte Grethe, streckte ihre beiden Arme empor und reckte sich.
Rosa war die erste, die den Tisch verließ. »Ja, ja«, sagte die Hebamme. »Gehen Sie nur, schlafen Sie ein wenig, liebes Kind.«
In ihrem Zimmer eilte Rosa zu dem kleinen Spiegel, der über dem Waschtisch an der Wand hing. Sie verstand es selbst nicht, welch seltsame Neugierde sie antrieb, anhaltend und aufmerksam ihr eigenes Gesicht zu betrachten. Dieses Gesicht mit den übergroßen blauen Augen erschien ihr heute so vergänglich und überfeinert. Ja! Das war es, wonach sie sich sehnte, etwas, bei dem sie sich von dem derben Lebensmut dort unten erholen konnte, der sie plötzlich mit einem Gefühl der Übersättigung und des Widerwillens bedrückt hatte. Das schmale, vornehme Gesichtchen aber, das ihr aus dem Spiegel melancholisch und geheimnisvoll entgegenlächelte, gab ihr wieder ihre Mädchenträume zurück, und als sie sich auf ihr Bett legte, ward sie von schönen, unklaren Gedanken in Schlaf gewiegt.
Der Abend war schon hereingebrochen, als Rosa erwachte. Mondschein lag auf dem Fußboden. Der Rosenstock auf dem Fensterbrett warf einen großen gezackten Schatten über den Vorhang.
Aus einem tiefen, traumlosen Schlummer erwachend, zögerte Rosa noch, wieder an das Leben anzuknüpfen, und gab sich ganz dem süßen Gefühl körperlicher Ruhe hin. Langsam nur kehrte ihr das Bewusstsein ihrer Lage zurück: Dort unten lag Tiglau; dieses war das kleine Gemach bei Böhks, ganz recht! Die Böhks hatte sie im Wohnzimmer um den Mittagstisch versammelt zurückgelassen. Bei alldem war nichts Trauriges. Die gute Böhk, die hübschen Mädchen, Herr Böhk mit seiner Violine. Und dennoch! Etwas Betrübendes musste es doch geben, sie war ja doch unglücklich. Oh, da war es! Jetzt wusste sie es! Eine innere Unruhe trieb Rosa aufzuspringen. Sie ging ans Fenster und schob die Vorhänge zurück. Unten lag Tiglau, hell beschienen, und über die Dächer hin schaute Rosa auf das Land hinaus, das sich dort – ganz weit – in ein bleiches, sanftes Flimmern verlor. »Das ist schön«, sagte sich Rosa. Sie fühlte wohl die Friedenspoesie dieses stillen Landes und wollte sie genießen. Trotz Kummer und Harm war die schöne, ruhevolle Welt doch da. Rosa stützte den Arm auf das Fensterbrett und schaute hinab.
Oft schon hatte sie es versucht, in gesammeltem Anschauen die Welt zu genießen. Daheim, wenn der Mondschein auf dem Dach des Pfarrhauses lag und die Kastanienwipfel voller Sterne hingen, hatte sie einen Stuhl an das Fenster gerückt und sich zum Betrachten niedergesetzt. Aber, weiß es Gott, lange hatte sie es nie ausgehalten. Die Mondnacht flößte ihr Unruhe ein, Lust mitzutun. Sie musste hinaus, musste mit Sally und Marianne durch die Straßen schreiten, an die Fensterscheiben des Fräulein Katter pochen, in den Häusernischen kichern.
Rosa wollte es kaum glauben, aber so war es auch heute, sie vermochte nicht ruhig dazusitzen, es trieb sie wieder mitzutun. »Hinabgehen kann ich wenigstens«, sagte sie sich.
In dem engen Mauerraum, der die Wendeltreppe enthielt, befand sich ein rundes Fenster, durch das der Mond