»Was ist dir, Mama?« rief Fräulein Sally.
»Ach Gott!« wimmerte Frau Lanin, »wie bin ich erschrocken! Mein Gott!«
»Was gibt’s denn? Sage!«
»Mir träumte, ich zerschlug die große Lampe. Pfui! Mein Gott!«
»Wie kann man so etwas träumen!« meinte Fräulein Sally verächtlich, und Ambrosius fügte tröstend hinzu: »Träume sind ja nur Schäume.«
»Gott sei Dank, ja! Aber ein Schreck war das!« klagte die alte Dame, »nun ist’s vorüber. Gehen wir zu Bett. Gute Nacht, Ambrosius.«
Auch Fräulein Sally reichte ihrem Vetter die Hand und sagte: »Denken Sie daran, was ich Ihnen sagte.« – »Gewiss, ganz gewiss! Das vergesse ich nicht«, versicherte er und drückte zart die kleine Hand, obgleich er nicht sicher war, welchen der Ausfälle gegen »die Herren« er sich merken sollte.
Achtes Kapitel
Beim nächsten Zusammentreffen in der Schule schenkte Fräulein Sally ihrer Freundin keine Beachtung. Sie hatte für Rosa nur flüchtige Mitleidsblicke. Sie tat ihr leid, das arme Geschöpf, das keinen Vetter hatte, mit dem sie sich geistreich necken konnte. Noch wollte sie ihr aber nichts von diesem Vetter erzählen, der Verrat an der Freundschaft musste bestraft werden. Fräulein Sally ließ sich nur herbei, gegen Marianne Schulz leichthin zu bemerken: »Gott, ich bin müde! Ich habe mich gestern bis spät in die Nacht hinein mit meinem Cousin unterhalten.«
Marianne riss die Augen auf und fragte: »Haben Sie denn einen Cousin?«
Fräulein Sally lachte und stieß ihre Nachbarin mit dem Ellenbogen: »Hören Sie doch! Marianne weiß nicht einmal, dass gestern mein Cousin angekommen ist.«
»Aber Marianne!« meinte die Nachbarin verächtlich.
Allzulange vermochte Fräulein Sally jedoch nicht zu zürnen.
Als Rosa am Nachmittage über den Marktplatz ging, winkte Fräulein Sally ihr freundlich zu und rief: »Rosa, mein Herz! Wohin?«
Rosa trat an das Fenster und berichtete: Zu Hause sei es zu schwül gewesen, darum sei sie spazierengegangen.
Fräulein Sally saß am Fenster und hielt einen Roman in der Hand. Es war noch jemand im Gemach und rauchte. Rosa vermochte ihn nicht deutlich zu sehen, da er seitab vom Fenster stand, sie zweifelte jedoch nicht daran, dass es der Neue sei.
»Kommst du nicht herein, liebe Rosa? Es sitzt sich hier ganz allerliebst.«
Rosa fand ihre Freundin heute ungewöhnlich sanft; auch bemerkte sie an ihr einige feine Handbewegungen, die sie noch nicht kannte. Sie wunderte sich nicht darüber, denn die Zigarette, die im Hintergrunde des Gemaches leuchtete, übte auch auf Rosa ihren Einfluss aus und machte, dass sie manches tat und sagte, was ihr nicht ganz natürlich war.
Rosa wollte der Einladung ihrer Freundin nicht Folge leisten, sie hatte sich vorgenommen, spazierenzugehen, und Sally wusste ja, wenn sie sich etwas vornahm…
»Oh, der kleine Eigensinn!« rief Fräulein Sally. »Aber ich begleite dich, mein Herz.« Leiser fügte sie hinzu: »Vielleicht kommt er mit. Cousin«, sprach sie dann in das Zimmer hinein, »Sie machen wohl auch eine Promenade?«
»Unmöglich«, verlautete die Stimme aus dem Hintergrunde. »Unmöglich – bei dieser Hitze! Sie scherzen, Cousine!«
»Durchaus nicht«, erwiderte Fräulein Sally. »Gott, was die Herren verwöhnt sind!«
»Nicht doch«, rief Ambrosius und trat an das Fenster. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, es geht nicht; ich muss ins Geschäft. Sonst – oh!«
Fräulein Sally erhob sich mit einem so ernsten Gesicht als wollte sie ein Vaterunser sprechen, und sagte: »Mein Cousin Tellerat – meine Freundin Rosa Herz.«
»Ah – es freut mich.« Ambrosius verbeugte sich. »Es tut mir leid, die Damen nicht begleiten zu können – in der Tat. Oh, meine Damen, Sie wissen nicht, was das heißt: Geschäfte im August.«
Fräulein Sally drohte neckisch mit dem Finger und hielt es für Trägheit, er aber legte die Hand auf das Herz und beteuerte das Gegenteil.
»Gut, wir gehen also allein. Ich hole meinen Hut.« Mit diesen Worten hüpfte Fräulein Sally davon.
Während ihrer Abwesenheit entspann sich eine höfliche Unterhaltung zwischen Rosa und Ambrosius; sie mit aufmerksam ernstem Gesicht und stetem Erröten, er, die Schulter leicht gegen den Fensterrahmen gelehnt – sehr gerade, mit ausgebogener Taille und beständigem Räuspern, wobei er den Rauch der Zigarette durch die Nasenlöcher trieb, denn, weiß es Gott warum, dieser junge Mann hielt einen beständigen Katarrh für weltmännisch und vornehm.
Sie sprachen über das Städtchen. Ambrosius meinte, es gefalle ihm, es sei nett; nett sei das rechte Wort dafür, worauf Rosa erwiderte, es sei recht freundlich. Ja, er gab das zu, zog jedoch den Ausdruck nett vor. Ein wenig still, wandte Rosa ein, sie fand es sogar zuweilen langweilig. Ein wenig kleinstädtisch, Gott, ja – Ambrosius hatte es nicht anders erwartet. Eine ruhige, gemütliche Geselligkeit war ihm gerade recht. Das bunte Treiben einer großen Stadt wird man auch müde, nicht wahr? Ah gewiss! Zur Erholung war es der rechte Ort. – Rosa verstand das wohl.
Dann kam Fräulein Sally zurück und rief ihrem Vetter scherzhafte Abschiedsworte zu, die dunkel genug waren. Beide lachten jedoch, zum Zeichen, dass sie sich verstanden.
Arm in Arm wanderten die beiden Mädchen dem Stadtgarten zu. Von dem gestrigen Streit war keine Rede mehr, sondern Fräulein Sally begann sogleich den Charakter ihres Vetters zu besprechen. Sie hatte einiges über die Kunstreiterin – denn eine Kunstreiterin war sie, das stand jetzt fest – in Erfahrung gebracht. Sie war der Ansicht, es sei nur eine momentane Verirrung gewesen, die von keinen Folgen sein dürfte.
»Er tut mir leid!« seufzte das gute Mädchen. »Siehst du, er hat ein gutes, sozusagen ein goldenes Herz. Heute morgen versuchte ich den zarten Punkt zu berühren. Du verstehst? Ich wollte andeuten, dass ich um die Sache weiß und ihn verstehe. Er wurde ganz ernst und sagte: ›Das ist vorüber, Cousine Sally.‹ Das klang im höchsten Grade beweglich. Dabei fuhr er sich mit der Hand über