Rosa hatte lange hinausgestarrt. Mechanisch und gedankenlos war sie allen Vorgängen draußen gefolgt. Ihre Augen hatten immer starrer vor sich hingeblickt, hatten sich endlich geschlossen, der Kopf war auf den Arm niedergesunken – Rosa schlief, und das blonde Köpfchen im offenen Fenster schien auch ein Stück des trägen Nachmittaggoldes zu sein, das dort auf der Fensterbank liegengeblieben.
Als ein roter Sonnenstrahl ihre Augen traf, erwachte Rosa. Sie war allein im Gemach; ihr Vater hatte sich leise fortbegeben. Ringsum auf den alten Möbeln und Sachen lag blassrotes Licht. Von der Straße tönten Stimmen und Schritte herauf. Auf dem Gartenzaune saß des Pfarrers Bube und biss in eine gelbe Frühbirne. Die Kastanienwipfel wiegten sich sachte hin und her. Eine Katze stand ruhig auf einem Dach und schaute über die Stadt hin, während die Sonnenstrahlen zwischen ihren Beinen hindurchschlüpften und ihren Leib vergoldeten. Der weiße Wolkenhügel von vorhin war fort; die Wölkchen waren auseinandergezogen und lagen jetzt verstreut über das tiefe Himmelsblau,
Es war lustig! – Rosa rieb sich die Augen und dachte darüber nach, was es doch war, das sie vorhin betrübt hatte. Sie entsann sich dessen wohl; aber es erschien ihr jetzt gering. Fräulein Schank, das Kleid mit den gelben Erbsen, die Fabel, ihr alter Vater, das alles war kein Grund, sich ernstlich zu grämen. Brauchte sie denn das enge Leben zu teilen? Gehörte ihre anziehende Person mit den blauen Augen und dem goldenen Haar nicht ihr? Konnte sie denn mit ihrem Leben nicht anfangen, was sie wollte? Was konnte sie nicht alles Tolles, Unerhörtes beginnen. Noch wollte sie warten; sie hatte ja Zeit. Sinnend lehnte sie den Kopf an das Fensterkreuz und lächelte hochmütig. Der Gedanke: ich gehöre mir – mir ganz allein, war plötzlich in diesem leichtfertigen Mädchenhirn aufgeschossen, schüchtern noch und unklar; er war jedoch da mit seiner ganzen wundersamen, gefährlichen Macht.
Auf der Treppe des gegenüberliegenden Hauses saß der Pfarrer Raser mit seiner Frau. Ihre ruhigen Stimmen schollen über die Straße zu Rosa herüber. Ihr Jüngstes, nur mit einem Hemdchen angetan, sprang zu ihnen heraus und stieß kleine schrille Freudenrufe aus, wie sie nur Vögeln und Kindern eigen sind.
Das sinnende Mädchen stand vor dem großen Frieden der Natur, mit dem unruhigen, eigensinnigen Egoismus junger Herzen; es grübelte und sann, wie es diese Schönheit und Harmonie sich dienstbar machen könnte; wie es sich damit schmücken sollte, welche Rolle ihm in diesem Schauspiele gebührte? Nachdenklich blickten die blauen Augen zu den Sternen auf, wie sie sonst wohl in den Spiegel schauten, um die geeignetste Stelle für ein Band in den blonden Flechten zu finden.
Herr Herz kam in heiterer, angeregter Stimmung heim. Er küsste seine Tochter auf die Stirn und fragte, ob die schwarze Laune schon geschwunden sei. Dann lief er unruhig im Zimmer auf und ab und packte seine Neuigkeiten aus. Bei Lanins war vor einer halben Stunde der Neue angelangt. Herr Herz war zugegen gewesen, als die Postchaise bei Lanins vorgefahren war, denn er stand mit dem Doktor gerade auf dem Marktplatze. »Klappekahl kam sogleich herbeigelaufen, und wir betrachteten den jungen Mann. Viel war nicht zu sehen. Er sprang schnell aus dem Wagen und ging in das Haus. Ein Schnurrbärtchen scheint er zu tragen, genau lässt sich das nicht bestimmen; der Doktor meinte, es sei nur Staub von der Reise.«
»War Sally da?« fragte Rosa.
»Ich glaube – ja«, erwiderte Herr Herz. »Es schien mir, als stände sie im Laden, er aber, natürlich, ging durch die Haustüre ins Haus. Einen grauen Mantel mit einer Kapuze trug er; das soll jetzt Mode sein, sagt Klappekahl. Klappekahl fand auch in der Art, wie der junge Mann sich aus dem Wagen schwang, viel Chic. Ich konnte nichts Besonderes sehen. Drei Koffer hat er mitgebracht, schön mit Leder überzogen. Wir gingen heran und befühlten sie. Ich gehe später noch in den Klub, vielleicht kommt Lanin und erzählt von seinem Neffen.«
Herr Herz sprach die ganze Mahlzeit über von dem wichtigen Ereignis und erging sich in allerhand Vermutungen.
»Also du gehst heute in den Klub?« fragte Rosa.
»Ja, ich muss hin, ich hab’s Klappekahl versprochen.«
»Ich gehe auch noch hinaus«, meinte Rosa. »Schön ist’s heute abend. Ich sitze noch mit Rasers im Freien.«
»Gut, gut, mein Kind! Agnes braucht die Türe nicht zu verschließen.«
Diese kleine Lüge kostete Rosa nicht das Geringste; im Gegenteil, sie machte ihr Vergnügen. Sie war das notwendige Zubehör zu einem Abenteuer – ein Stückchen Intrige.
Sechstes Kapitel
Als Rosa in die kühle Nachtluft hinaustrat, fühlte sie sich recht glücklich. Sie blieb einen Augenblick stehen, atmete tief den feuchten Duft ein, der rings vom Laub der Kastanien und aus des Pfarrers Garten aufstieg – sah zum Himmel auf, an dem jetzt Stern an Stern stand – und schauerte behaglich in sich zusammen. Um weniger kenntlich zu sein, hatte sie ein großes Tuch um Kopf und Brust geschlungen. So schritt sie die Gasse hinab. Sie eilte nicht zu sehr. Neugierig musste sie alles, an dem sie vorüberging, betrachten. Die altbekannten Gegenstände und Plätze hatten bei Nacht nicht das gewohnte Aussehen. Es schien Rosa, als waltete über ihnen etwas Ungewöhnliches und Anziehendes. Das plötzliche Rauschen, welches in den schwarzen Wipfeln erwachte, um wieder ebenso plötzlich abzubrechen; die Dachvorsprünge, die sich, wie schwarze Nasen, über die Straße beugten; die Blumen, die stärker dufteten und voll großer Tropfen hingen – alle hatten ein wunderlich geheimnisvolles Wesen, als müssten auch sie eigentlich in einer bürgerlichen Stube, unter der geblümten Baumwolldecke, wohlverwahrt liegen, und ihre Anwesenheit sei etwas Ungewöhnliches, Unerlaubtes und habe einen lustigen Grund, den niemand erfahren durfte. Unter den Bäumen, am Ende der Straße, war es jetzt ganz einsam. – Hinter den Bäumen stand die Kirche mit ihrem roten Ziegeldach und ihrem spitzen Turm. Ein Grab lag dicht daneben. Rosa wusste es; oft hatte sie versucht, die halbverlöschten Buchstaben auf dem Stein zu entziffern. Es war das einzige Grab an dem Ort. In alter Zeit hatten sie dort eine Wohltäterin des Städtchens gebettet. Jetzt näherte sich Rosa ihm und dachte, ob sie sich wohl fürchten würde? Ein Grab bei Nacht gehört ja doch zu den schauerlichen Dingen. Als sie aber davorstand, bemerkte sie, dass ihr nicht bange war. Der Stein schlief friedlich an gewohnter Stelle, und das Gras, das hoch um ihn aufgeschossen war, lag voll blanker Tropfen.
Der Ort der Zusammenkunft war dicht am Fluss. Ein schmaler, wenig betretener