Und dann wieder Karlchen: wie Dörten, Mathilde und Zophie, die neugierigsten Mädchen in ganz Celle, ihn gefragt hatten, wer denn der junge Mann wäre, der jetzt immer morgens durch die Straßen ginge. Er konnte es ihnen nicht sagen. Und dann hatte er sie nachts geweckt, das ging gut, denn sie wohnten Parterre – und als sie ganz erschreckt ans Fenster kamen, alle drei: »Ich wollte den Damen nur sagen: der Herr von heute morgen hat fromme Bücher verkauft.«
Und dann sangen sie schöne Lieder, immer eines nach dem andern. Die Prinzessin:
»Auf dem Berge Sinai, da sitzt die Mutter Pietschen, und wenn sie nichts zu essen hat, dann …
Karlchen, wie ist das mit einem Lullerchen Schlaf, heute nachmittag?« fragte sie plötzlich. Karlchen sang grade:
»Sie trug ein buntkariertes Kleid,
mir tut mein Geld noch heute leid –
Nein«, sagte er. »Heute nachmittag tun wir einen schönen Spaziergang. Das ist gut für den Dicken, und wir schlafen dann nachts besser.« Der Dicke war ich. Wohlwollend musterte mich sein Blick. »Wenn man euch junges Volk so sieht … gut erholt seid ihr –!« Und so fühlten wir uns auch. Ich wackelte schweigend neben den beiden her, denn junges Glück soll man nicht stören.
Begehrte er sie –?
Natürlich begehrte er sie. Aber dies war ungeschriebenes Gesetz zwischen uns: Totem und Tabu … Unter welchem Tier wir geboren waren, wußten wir nicht; aber es mußte wohl das gleiche sein. Und die Frauen des andern: nie. Rational gemacht hatten wir das so: »Deine Bräute … also wenn man die schon sieht – herzlichen Glückwunsch!« Und wieder fühlte ich, zum hundertsten Male in so vielen Jahren, das Unausgesprochene dieser Freundschaft, das Fundament, auf dem sie ruhte. Ich kannte den Urgrund seiner Haltung. Ich wußte, weil ich es mit angesehen hatte: was der Mann alles erlebt hatte (»Über mich ist ein bißchen viel hinweggebraust!« pflegte er zu sagen); ich sah seine unbedingte Selbstbeherrschung; wenn’s schiefging, der konnte die Ohren steifhalten. Oft, wenn ich nicht weiter wußte, dachte ich: Was täte Karlchen jetzt? Und dann ging es wieder eine Weile. Eine richtige Männerfreundschaft … das ist wie ein Eisberg: nur das letzte Viertel sieht aus dem Wasser. Der Rest schwimmt unten; man kann ihn nicht sehn. Klamauk – Klamauk ist nur schön, wenn er auf Ernst beruht.
»Plattdeutsch predigen«, hörte ich Karlchen grade sagen, »nein – nein.« – »Das ist doch Unfug, Herr Karlchen«, sagte die Prinzessin. »Warum denn nich? Den Bauern vestehn es doch viel besser. Natürlich euern Platt … aber unsen Plattdeutsch …« – »Schöne junge Frau«, sagte Karlchen, »das ist es nicht. Die Bauern verstünden es schon – und eben deswegen mögen sie es nicht. In der Kirche wollen sie nicht die Sprache ihres Alltags; vor der haben sie keine Achtung – was kann an dem sein, was sie im Stall sprechen? Sie wollen das andre, das Ungewöhnliche, das Feierliche. Sonst sind sie enttäuscht und nehmen den Pastor nicht für voll. Na, und nun gehn wir ja wohl im Chantant3 … Fritzchen, weißt du noch?«
Und ob ich es wußte! Das stammte von Herrn Petkoff aus Rumänien, vom rumänischen Kriegsschauplatz, den wir gemeinsam bevölkert hatten. Herr Petkoff pflegte Geschichten zu erzählen, die sich durch besondere Pointenlosigkeit auszeichneten, aber sie endeten alle im Puff. »Sagt er zu mir: Petkoff, du Schwain, komm, gehn wir im Chantant!« Und was da nun war, wollte die Prinzessin gern wissen. Karlchen machte vor: »Petkoff sagte und schlug sich dabei auf die Oberschenkel: Hier ein Mättchän und da ein Mättchän …« – »Aber Karlchen«, sagte die Prinzessin, »da muß ich ja ganz rot werden!« – »Er hatte eine Freundin, der Petkoff. Die hatte vor seiner Zeit dreizehn Geliebte gehabt.« – »Dreizehn Geliebte«, lobte die Prinzessin. »Und wieviel schnelle Männer –?«
So schritten wir selbander dahin.
Da blieb die Prinzessin stehn, um sich zu pudern. »Ich begreife nicht, wie man sich in Gottes freier Natur pudern kann«, sagte ich. »Die Luft hat doch … der Teint ist …« – »Du gewinn den Nobelpreis und halt den Schnabel«, sagte sie. »Hör mal, ich sage dir das wirklich …« – »Daddy, das verstehn die Männer nie – und wir verstehn uns doch wirklich gut. Jeder seins, lieber Daddy. Du schminkst dich nicht, und ich genieße des Puders. So ist das!« Nun setzten wir uns auf eine Bank. Ich brummte: »They are all the same …«, dieser Satz Byrons machte meinen halben englischen Sprachschatz aus. »Sei mal nett zu ihr!« sagte Karlchen, und die Prinzessin war begeistert und nickte ihm fröhlich zu: »Nicht wahr?« – »Wer seine Braut zu seinem Weibe macht«, sagte Karlchen, »der soll auch das Weib zu seiner Braut machen!« – »Nun gebt euch einen Kuß!« sagte ich. Das taten sie. »Sei wirklich nett zu ihr!« sagte Karlchen noch einmal.
Er war ein Vorübergehender. Der Vorübergehende ist stets milde und weise, hat für alles gute und kluge Worte und geht vorüber. Wir, die wir bleiben … Aber gleich war diese kleine Wolke vorbei. Weil Karlchen das gescheite Wort sprach: »Bei uns zu Hause sagen sie immer: Zur Heirat gehört mehr als nur vier nackte Beine ins Bett.«
»Karlchen«, sagte ich unvermittelt, »was wird aus uns mal? Ich meine … so später … im Alter …?«
Er antwortete nicht gleich. Dafür die Prinzessin: »Daddy, weißt du noch, was auf der alten Uhr stand, die wir in Lübeck zusammen gesehen haben und die wir damals nicht kaufen konnten?« – »Ja«, sagte ich. »Es stand drauf: Lasset die Jahre reden.«
Ich sah sie an, und sie gab den Blick zurück: Wir faßten uns mit den Augen bei den Händen. Sie war bei mir. Sie gehörte dazu. Sie sorgte für mich.
Als wir aber nach Hause kamen, lag da für die Prinzessin ein großer Strauß aus Mohrrüben, Petersilie und Sellerie. Der war von Karlchen, denn so liebte er, wenn er liebte.
»Das laßt man Frau Direktor sehn!« sagte das Stubenmädchen Emma. »Die ist heute grade in der richtigen Laune!«
Das Gelächter der vier kleinen Mädchen verstummte jäh. Eine bückte sich scheu nach den Büchern, mit denen sie sich eben geworfen hatten. Hanne, die dicke Hanne aus Ostpreußen, setzte zu einer Frage an. »Was ist denn? Ist Frau Direktor …?« – »Na, macht nur!« sagte das Mädchen und lachte schadenfroh. »Ihr werdt ja sehn!« Und ging eilig davon. Die vier standen noch einen Augenblick zusammen, dann verteilten sie sich rasch im Korridor. Hanne war die letzte. Sie hatte grade die Tür des Schlafzimmers aufgemacht, in dem die andern schon standen und ihre Badesachen zusammensuchten, als man die schrille Stimme der Frau Adriani aus dem untern Stockwerk vernahm – wie laut mußte sie sprechen, daß man das so deutlich hören konnte! Die Mädchen standen wie die Wachspuppen.
»So? Ach! Das hast du nicht gewußt! Das hat das gute Lieschen nicht gewußt! Habe ich dir nicht schon tausendmal gesagt, daß man seinen Schrank nicht offenstehn läßt? Was? Wie?« – Man hörte, wie aus einer Watteschachtel, ein ganz leises Weinen. Oben sahen sie sich an und atmeten, sie schauerten vor Angst zusammen. »Du bist eine Schlumpe!« sagte die ferne Stimme. »Eine dreckige Schlumpe! Was? Der Schrank ist allein aufgegangen? Na, da hört doch … Und – was ist denn das hier? Wie? Seit wann bewahrst du dir denn Essen in der Wäsche auf? Wie? Du Teufelsbraten! Ich werde dir –«
Nun wurde das Weinen lauter, so laut, daß man es deutlich hören konnte. Schläge konnten sie nicht hören –: Frau Adriani pflegte nicht zu schlagen, sie knuffte. »Hier – und da – und jetzt … Ich werde euch überhaupt mal alle …« Fortissimo: »Alle runterkommen! In den Eßsaal!«
In die Wachspuppen oben kam Leben; sie warfen ihre Badesachen auf die Betten, sie hatten plötzlich hochrote Köpfe, und einer, der ewig blassen Gertie, standen Tränen in den Augen. Man hörte, rasch hervorgestoßen: »Macht doch! Fix!«, dann gingen sie hinunter, sie liefen fast, schweigend.
Aus allen Türen kamen die Mädchen; sie hatten erschrockene Gesichter, eine fragte leise: »Was ist denn …« und wurde gleich zur Ruhe verwiesen; wenn es gewittert, soll man lieber nicht sprechen. Auf den Treppen trappelte es, Schritte, Poltern, Türenklappen … nun war der Eßsaal voll. Als letzte kam Frau Adriani, eine rote Wolke, mit der weinenden Lisa Wedigen an der Hand.
Das