Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kurt Tucholsky
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954185214
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begegnet sind? Da … da hinten … in den Wiesen?« – »Ja, da sind viele Kinder. Das ist wohl Bauernjungen, die spielen da viele Gängen …« – »Nein, nein. Es waren kleine Mädchen, sie gingen geordnet, wie ein Institut, eine Schule, so etwas …« – »Eine Schule?« Frau Andersson dachte nach.

      »Ah – das werden die von der Frau Adriani gewesen sein. Von Läggesta.« Und sie deutete über den See, wo man weit, weit in einer Lichtung recht undeutlich ein großes Gebäude liegen sah. »Das ist ein Pensionat, das ist eine Kinderkolonie. Ja.« Dazu machte sie ein Gesicht, wie ich es noch nie bei ihr gesehen hatte. Ich wurde neugierig. Man soll nie jemand nach dem fragen, was man wissen will, das ist eine alte Weisheit. Dann sagt er’s nicht. »Da sind gewiß viele Kinder … wie?« – »Ja, eine heile Masse«, sagte Frau Andersson; man mußte oft raten, was sie wohl meinte, denn sie übersetzte sich wahrscheinlich alles wörtlich aus dem Schwedischen. »In diesen Pensionat sind viele Kinder, aber nicht viele schwedische Kinder. Es gescheht Gottlob!« – »Warum Gottlob, Frau Andersson?« – »Jaha«, sagte sie und schlug mit der Seele einen Haken, wie ein verfolgter Hase, »da sind nicht viele schwedische Kinder, ne-do!« – »Schade«, sagte ich und kam mir mächtig diplomatisch vor. »Da ist es gewiß hübsch …« Frau Andersson schwieg einen Augenblick. Dann nahm sie beherzt einen kleinen Anlauf. Sie senkte die Stimme.

      »Das ist … das ist nicht eine liebe Frau, der da ist. Aber ich will nichts Böses sagen … verstehn Sie. Es ist eine deutsche Dame. Aber sie ist keine gute Dame. Das Volk von Deutschland sind so wohnliche Menschen – nicht wahr … Waren Sie so gut, fassen Sie mir das nicht übel!« – »Sie meinen die Vorsteherin von dem Pensionat?« – »Ja«, sagte Frau Andersson. »Die Versteherin. Die Versteherin, das ist eine schlimme Person. Das ist … jeder fühlt sie hier. Wir haben nicht an ihr Geschmack. Sie ist nicht gut gegen den Kindern.« – »So«, sagte ich und sah auf die Bäume, die leise mit den Blättern zitterten, wie wenn sie fröstelten, »so – keine gute Dame? Na … was macht sie denn? Schreit sie mit ihnen?« – »Ich will Sie etwas sagen«, sagte Frau Andersson, und nun wandte sie sich zur Prinzessin, als ob diese Sache nur unter Frauen abzuhandeln wäre; »sie ist hart zu den Kindern. Die Versteherin … sie slagt die Kinder.« Der Prinzessin gab es einen Ruck. »Sagt denn da niemand was?« – »Jaha …«, sagte Frau Andersson. »So schlagt sie sie nicht. Die Polizei kann darein nichts sprechen. Sie schlagt ihnen nicht, so zu krank zu werden. Aber sie ist unrecht dazu, die Kinder ist sehr bange für ihr.« Sie deutete auf ein schloßartiges Gebäude, das hinter Mariefred auf einem Hügel lag. »Ich möchte lieber da sein als bei der Kinderfrau.« – »Was ist denn das da hinten?« fragte ich. »Das ist eine Irrtumsanstalt«, sagte Frau Andersson. »So – und die Irren haben es besser als diese Kinder da?« – »Ja«, sagte Frau Andersson. »Aber da will ich sehn, ob das Abendmahl fertig ist … einen Augenblick!« Und sie ging, eilfertig, wie wenn sie zuviel gesagt hätte.

      Wir sahen uns an. »Komisch, wie?« – »Ja … das gibt’s«, sagte ich. »Wahrscheinlich irgend so ein Deubel von Weib, das da mit der Zuchtrute regiert …« – »Peter – spiel noch ein bißchen Klavier, bis das Essen fertig ist!«

      Und wir gingen ins Musikzimmer der Schloßfrau, das hatte sie uns erlaubt, und ich setzte mich an das kleine Klavier und ließ fromme Gesänge ertönen. Ich spielte hauptsächlich auf den schwarzen Tasten; man kann sich besser daran festhalten.

      Ich spielte:

      Manchmal denke ich an dich,

      das bekommt mich aber nich …

      denn am nächsten Tag bin ich so müde –

      und:

      Wenn die Igel in der Abendstunde

      still nach ihren Mäusen gehn,

      hing auch ich an deinem Munde –

      und dann sangen wir alte Volkslieder und dann amerikanische Lieder, und dann sangen wir ein Reiterlied, das wir selber gedichtet hatten, und das ganz und gar blödsinnig war, von der ersten bis zur letzten Zeile, und dann war das Abendessen fertig. Wir hatten eine Flasche Whisky aufgetrieben. Das war nicht einfach gewesen, denn wir hatten kein »Motbok«, nicht dieses kleine Buch, das die Schweden zum Bezug von Schnaps berechtigt. Aber die Flasche hatten wir. Und gar so teuer war sie auch nicht gewesen. Braun und Blond – black and white … ihr sollt leben …!

      Wir saßen vor dem Haus an einem Holztischchen und sahen zum Schloß hinüber. Ab und zu tranken wir einen Schluck.

      Zehn schlug es von dem alten Kirchturm – zehn Uhr. Die Luft stand still; die Bäume rührten kein Blatt – alles ruhte. Helle Nächte. Es war eine starre Ruhe, wie wenn sich etwas staute und die Natur den Atem anhielte. Hell? Es war nicht hell. Es war nur nicht dunkel. Die Äste drohten so schwärzlich, sie warteten. Wie wenn man allem die Haut abgerissen hätte: schamlos, ohne Dunkel, stand es herum, der Schwärze beraubt. Man hätte das schwarze Kleid der Nacht herbeizaubern und alles zudecken mögen, damit nichts mehr sichtbar wäre. Das Schloß hatte sein brennendes Rot eingebüßt und sah fahlbraun aus, dann düster. Der Himmel war grau. Es war Nacht, ohne Nacht zu sein.

      »So still, wie es jetzt ist, so sollte es überall und immer sein, Lydia – warum ist es so laut im menschlichen Leben?« – »Meinen lieben Dschung, das findest du heute nicht mehr – ich weiß schon, was du meinst. Nein, das ische woll ein für alle Mal verlöscht …« – »Warum gibt es das nicht«, beharrte ich. »Immer ist etwas. Immer klopfen sie, oder sie machen Musik, immer bellt ein Hund, marschiert dir jemand über deiner Wohnung auf dem Kopf herum, klappen Fenster, schrillt ein Telephon – Gott schenke uns Ohrenlider. Wir sind unzweckmäßig eingerichtet.« – »Schwatz nicht«, sagte die Prinzessin. »Hör lieber auf die Stille!«

      Es war so still, daß man die Kohlensäure in den Gläsern singen hörte. Bräunlich standen sie da, ganz leise setzte sich der Alkohol ins Blut. Whisky macht sorgenfrei. Ich kann mir schon denken, daß sich damit einer zu Grunde richtet.

      Weit in der Ferne läutete eine Glocke, wie aus dem Schlaf geschreckt, dann war alles wieder still. Weißgrau lag unser Haus; alle Lichter waren dort erloschen. Die Stille wölbte sich über uns wie eine unendliche Kugel.

      In diesem Augenblick war jeder ganz allein, sie saß auf ihrem Frauenstern, und ich auf einem Männerplaneten. Nicht feindselig … aber weit, weit voneinander fort.

      Mir stiegen aus dem braunen Whisky drei, vier rote Gedanken durchs Blut … unanständige, rohe, gemeine. Das kam, huschte vorbei, dann war es wieder fort. Mit dem Verstand zeichnete ich nach, was das Gefühl vorgemalt hatte. Du altes Schwein, sagte ich zu mir. Da hast du nun diese wundervolle Frau … du bist ein altes Schwein. Kein Haus ohne Keller, sagte das Schwein. Mach dir doch nichts vor! Du sollst das nicht, sagte ich zu dem Schwein. Du hast mir schon so viel Kummer und Elend gemacht, so viel böse Stunden … von der Angst, daß ich mir etwas geholt hätte, ganz zu schweigen. Laß doch diese unterirdischen Abenteuer! So schön ist das gar nicht – das bildest du dir nur ein! Höhö, grunzte das Schwein, das ist also nicht schön. Stell dir mal vor … Still! sagte ich, still! Ich will nicht. Oui, oui, sagte das Schwein und wühlte schadenfroh; stell dir vor, du hättest jetzt … Ich schlug es tot. Für dieses Mal schlug ich es tot – sagen wir: ich schloß den Koben ab. Ich hörte es noch zornig rummeln … dann sangen wieder die Gläser, ganz, ganz leise, wie wenn eine Mücke summte. »Daddy«, sagte die Prinzessin, »kann man hier eigentlich das blaue Kostüm tragen, das ich mitgenommen habe?«

      Ich war wieder bei ihr; wir saßen wieder auf demselben Trabanten und rollten gemeinsam durch das Weltall. »Ja …«, sagte ich. »Das kannst du.« – »Paßt es?« – »Natürlich. Es ist doch diskret und leise in der Farbe, das paßt schön.« – »Du sollst nicht soviel rauchen«, sagte ihre tiefe Stimme; »dann wird dir wieder übel, und wer hat’s nachher? Ich. Tu mal die Pfeife weg.«

      Ich, Sohn, tat die Pfeife weg, weil die Mutter es so wollte. Leise legte ich meine Hand auf die ihre.

5

      Maurer hatten das große Haus in Läggesta gebaut – wer denn sonst. Handwerker; ruhige bedächtige Männer, die sich erst dreimal umsahen, bevor sie eine Bewegung machten, das ist auf der ganzen Welt so. Als alles fertig war, hatten sie die Wände mit Kalk beworfen, manche Zimmer hatten sie