Als wir das Haus wiedersahen, waren wir wie auf Kommando still. »Einer links, einer hinten herum«, sagte Karlchen. »Es muß aber einer bei der Prinzessin bleiben«, sagte ich. »Das Weib ist imstande und haut.« – »Dann geht ihr da«, sagte er. »Ich will es von links versuchen.« Wir schlichen näher.
Das Haus lag still, ganz still. Ob sie uns durch ein Fenster beobachtete? Wenn sie nun einen Hund hatte? Immerhin: es war ein fremdes Grundstück; wir hatten hier nichts zu suchen. Die Frau war im ius. Welch eine preußische Überlegung! Ein Kind litt. Los.
Still war alles. Weit sah man von hier hinaus, am Haus vorbei, ins Land. Da lag der Mälarsee, da das Schloß Gripsholm, rot, mit den dicken Kuppeln, und der Mischwald, Tannen und Birken.
»Pst!« machte die Prinzessin. Nichts. Karlchen war nicht zu sehen. Fragend sah ich sie an. Wir gingen langsam weiter und traten vorsichtig auf, als gingen wir auf Eis. War das ein Gesicht hinter einem Fenster – eine kreisrunde Scheibe …? Täuschung, es war ein Widerschein. Wir gingen nah am Haus vorbei. Die Prinzessin blickte überall umher. Plötzlich ging sie vorwärts – »Rasch!« sagte sie – sie lief auf einen weißen Fleck zu, der unweit des Hauses im Grase war … da lag ein kleines Stück Papier. Hinten wandelte Karlchen langsam am Zaun vorbei. Die Prinzessin bückte sich, sah das Papier an, hob es auf und schritt rasch weiter.
Wir beeilten uns, bis wir aus der Umgatterung heraus waren. »Na?« sagte Karlchen.
Die Prinzessin blieb stehn und las vom Papier:
Collin Zürich Hottingerstrase 104.
Die Rückseite eines Kalenderblatts, und eine kraklige Kinderhandschrift. »Strase« war mit einem s geschrieben. »Dat harrn wi hinner uns!« sagte die Prinzessin. »Auf in den Kampf« – pfiff Karlchen.
Zurück nach Gripsholm.
Wir liefen durcheinander wie die Indianer, wenn sie sich auf den Kriegspfad begeben. Alle drei redeten mit einemmal. »Mal langsam –«, sagte das kluge Karlchen. »Telegraphieren … ihr seid ja verdreht. Wir schreiben jetzt erst mal an die Frau einen vernünftigen Brief. Und da muß drinstehn …«
Was sich nun begab … das möchte ich nicht noch einmal durchmachen. Es war eine Schlacht. Es wurde nicht ein Brief geschrieben – es wurden vierzehn Briefe geschrieben, immer einer nach dem andern, dann drei zu gleicher Zeit, und während ich auf meiner Maschine herumhackte, bis sie heiß wurde, schrieben die beiden andern emsig ihre Bogen voll. Es war wie eins dieser altmodischen Gesellschaftsspiele (»Was tut er? – Was tut sie? – Wo lernten sie sich kennen?«), und jeder wollte zuerst seins vorlesen, und jeder fand seinen Schrieb am allerschönsten und am allerfeinsten und die der andern von oben bis unten unmöglich. »Unmöglich!« sagte die Prinzessin. »Dat is ja Kinnerkram is dat ja!« – Ich wollte etwas erwidern. »Du bischa so klug«, sagte sie. »Du schast ock mit na Pudel sin Hochtid! Nu do mi dat to Leev …«, und dann fing alles wieder von vorn an.
Schließlich blieben drei Entwürfe übrig – zur engern Wahl. Karlchen hatte einen juristischen Brief geschrieben, ich einen feinen und die Prinzessin einen klugen. Und den nahmen wir.
Darin war knapp und klar erzählt, was wir gesehen hatten, und daß wir uns nicht in die Collinschen Familienangelegenheiten einmischen wollten und daß sie nur ja nicht an die Frau schreiben sollte, das gäbe bestimmt ein Unglück, und sie brauchte sich nicht zu beunruhigen, wir würden inzwischen sehen, was sich machen ließe – aber sie möchte uns erlauben, einmal mit ihr zu telephonieren. »So«, sagte die Prinzessin und klebte zu. »Das hätten wir. Gleich weg mit ihm. Auf die Post –!« Als der Brief in den Kasten plumpste, fiel uns je ein Stein vom Herzen. »So ein Kind …«, sagte ich. »So ein kleiner Gegenstand –!« Und da lachten mich die beiden heftig aus.
»Gib mir mal ’n Zigarettchen!« sagte Karlchen, der gern andrer Leute Zigaretten rauchte und ihre Zahnpasten benutzte. (»Freundschaft muß man ausnutzen«, pflegte er zu sagen.) »Wißt ihr auch«, sagte er in die abendliche Stille, während wir langsam durch die Straßen von Mariefred gingen und uns die Schaufenster ansahen, »daß ich morgen abend fahre?« Bumm – das hatten wir vergessen. Die acht Tage waren um – ja –
»Wollen Sie nich noch ’n büschen bei uns bleiben, Karling?« fragte die Prinzessin. »Gnädigste«, sagte der lange Lümmel und streckte den Arm aus, »leider läuft mein Urlaub ab – ich muß. Ich muß. Herrschaften, das war aber eine anstrengende Konferenz!« Er blieb stehen. »Na, du bist doch Experte in Konferenzen … du Beamter!« – »Ich schimpfe dich auch nicht Literat, du Buffke. Der alte Eugen Ernst sagte immer: Wenn einer nichts zu tun hat, dann holt er die andern, und dann machen sie eine Konferenz. Und zum Schluß, wenn alle geredet haben, dann konstatiert er. Und dann ist es aus. Und jetzt setz dich noch mal an deinen Schreibpflug und schreibe für Jakopp ein Kartentelegramm!« Das tat ich.
»Ich finde«, sagte ich zu Karlchen, »es muß ein Einwort-Telegramm sein. Es wird sonst zu teuer. Da:
Drahtetsofortobhiesigenmälarseezwecksbewässerungkäuflicherwerbenwolltwassergarantiertechtallerdingsnurzuschwimmzweckengeeignetfasthochachtungsvollfritzchenundkarlchenwasseroberkommissäre«
»Na, da wollen wir ihm den Abschiedstrunk rüsten, was?« sagte Lydia. Wir rüsteten. Wir krochen umher und plagten die gute Schloßdame, auf daß wir etwas zu trinken bekämen; wir kauften ein und fanden es alles nicht schön genug; wir stellten auf und packten aus, und … »Was gibt es zu essen?« erkundigte sich Karlchen. »Was möchten Sie denn?« fragte die Prinzessin. – »Ich möchte am liebsten Murmeltierschwanzsuppe.« – »Wie bitte?« – »Kennt ihr das nicht? Die jungen Leute! Zu meiner Zeit … Also Murmeltierschwanzsuppe wird im hohen Norden von den Eskimos gewonnen. Sie jagen das Murmeltier so lange, bis es vor Schreck den Schwanz verliert, und auf diese Weise –« Worauf wir ihm zwei Kissen an den Kopf warfen, und dann gingen wir hinunter und aßen.
»Ich möchte eigentlich noch über Ulm fahren«, sagte Karlchen. »Da habe ich eine Braut zu stehn – die hätte ich gern überhört.« – »Sie sollten sich was schämen!« sagte die Prinzessin. »Ist sie hübsch?« fragte ich. »Na, wie wird sie schon sein … deine Weiber …« Er grinste, und: Deine vielleicht … konnte er ja jetzt nicht sagen. »Wie willst du über Ulm fahren?« fragte ich. »Da kommst du doch gar nicht hin!« – »Ich fahre auch nicht«, sagte Karlchen. »Ich möchte bloß mal …« – »Er ist ein gesprochener Casanova«, sagte die Prinzessin. »Du, Alte –«, sagte ich, »manchmal läßt er seinen lieben Worten auch Taten folgen, und dann geht es gar heiter zu.« Karlchen lächelte, wie wenn von einem ganz andern wilden Mann gesprochen würde, und wir entkorkten mit einem weithin hörbaren Flupp den Whisky, woraufhin Karlchen zum ›Herrn Fluppke‹ ernannt wurde, und dann saßen wir und tranken gar nicht viel. Wir redeten uns besoffen. Die vier Windlichter bewegten sich in dem schwachen Luftzug.
»Rauch nur deine Pfeife!« sagte Karlchen. »Rauch nur! Er verträgt doch kein Nikotin, Prinzessin! Ist die Pfeife etwa neu?« – »Das ist es ja eben«, sagte ich. »Ich muß sie anrauchen. Mensch, Pfeifen anrauchen …« – »Kann man das nicht mit Maschinen?« fragte die Prinzessin. »Ich habe mal so was gehört.« – »Man kann es mit Maschinen«, sagte Karlchen. »Ich hatte einen Schulfreund, in der Oberprima, der hatte erfunden, Pfeifen mit der Luftpumpe anzurauchen. Ich weiß nicht mehr, wie er das gemacht hat – aber er machte es. Ich hatte ihm meine neue Pfeife gegeben, eine wundervolle neue Pfeife. Und da muß er wohl zu stark mit der Pumpe gearbeitet haben … und da hat sich die Pfeife selbst ausgeraucht, und es blieb überhaupt nichts weiter von ihr übrig als ein Häufchen Asche. Er hat mir eine neue kaufen müssen. Mir ist diese Pfeifengeschichte immer sehr symbolisch vorgekommen … Ja. Aber wofür symbolisch: das habe ich vergessen.« Wir schwiegen, tief sinnend.
»Ein Esel«, sagte die Prinzessin. Wir wollten protestieren