Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kurt Tucholsky
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954185214
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stirbt, dann weiß niemand, daß du hier stehst. Roman, Filmidee. Pathé hat mal so was gemacht. Eine Gemeinheit, Leute in Dunkelarrest zu stecken. Ich habe im Kriege mal einen rauskommen sehen, der taumelte, als er das Licht sah. Dann begann er zu weinen. Er hatte nicht ordentlich Krieg geführt, deshalb hatten sie ihn eingesperrt, das soll man nicht. Die Richter ausprobieren lassen, was sie da verhängen. Geht aber nicht, weil sie ja wissen: es ist nur eine Probe. Also Wahnwitz der Todesstrafe, deren Wirkung niemand kennt. Nun ging das Herz ganz ruhig, ich hatte nachzudenken und ließ die Gedanken laufen … Die Holzscheibe ruckte an, wurde fortgezogen. Licht. Lydia. Die Leiter.

      Ich stieg hinauf. Die Prinzessin lachte über das ganze Gesicht. »Wie ist denn das alles so plötzlich gekommen? Komm mal her – Na, nun aber gleich nach Haus! Allmächtiger, wie siehst du aus!« Ich war grau vor Dreck, behangen mit Spinnweben, die Hände von schwarzen Streifen geziert und der Rest entsprechend. »Wat hebben se seggt? Was hast du getan? Menschenskind, nu sieh dir man blodsen ierst mal in den Speegel!« Ich sah lieber nicht in den Spiegel. »Wo warst du so lange, Alte? Läßt einen da unten schmachten! Das ist Liebe!« – »Ich …«, sagte die Prinzessin und steckte den Spiegel wieder ein, »ich habe hier ein Töpfchen gesucht, sie haben aber keins. Die alten Burggrafen haben offenbar an chronischer Verstopfung gelitten!« – »Falsch«, lehrte ich, »falsch und ungebildet. Sie setzten sich zu diesem Behufe auf kleine Örtlichkeiten, die es hier natürlich auch gegeben hat, und diese Örtlichkeiten gingen in den Schloßgraben, wenn aber sie belagert wurden, und es kam der böse Feind, dann …« – »Nunmehr ist es wohl an der Zeit, daß wir dich waschen. Du Ferkel!« – Und wir spazierten in unsre Wohnung, vorüber an der maßlos erstaunten Wirtin, die sicherlich dachte, ich wäre in den Branntwein gefallen. Bürstung, Waschung, frischer Kragen, prüfende Blicke der Prinzessin, dreimal zurück, weil immer noch etwas klebengeblieben war. »Wen ärgern wir nun?« – »Schetzt kommst du mich aber raus. Nichs as Dummheiten hat diesen Kierl innen seinen Kopf. Un das will ’n iernsten Mann sein!« – »Will nicht … Muß. Muß.« Wir traten ins Freie.

      Weiter hinten stand ein kleiner Pavillon; darin saß die Autogesellschaft und trank Kaffee. Wir schlenderten vorüber und sprachen lustig miteinander. Der jüngere Mann stand auf und kam auf uns zu. »Die Herrschaften sind Deutsche …?« – »Ja«, sagten wir. – »So … vielleicht … wenn Sie an unserm Tisch Platz nehmen wollten …?« Der Dicke erhob sich. »Teichmann«, sagte er. »Direktor Teichmann. Meine Frau. Meine Nichte, Fräulein Papst. Herr Klarierer.« Nun mußte ich auch etwas sagen, denn dies ist die Sitte unsres Landes. »Sengespeck«, sagte ich. »Und meine Frau.« Worauf wir uns setzten und die Prinzessin mir unterm Tisch an die Schienbeine trat. Kaffeegeschlürf. Tellergeklapper. Kuchen.

      »Sehr hübsch hier – Sie sind wohl auch zur Besichtigung hier?« – »Ja.« – »Reizend. Sehr interessant.« Pause.

      »Sagen Sie … ist das Schloß eigentlich bewohnt?« Die Prinzessin trat heftig. »Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht. Nein. Sicher nicht.« – »So … wir dachten …« – »Warum fragen Sie?« Die Gesellschaft wechselte untereinander bedeutungsvolle Blicke. »Wir dachten nur … wir hatten da oben in dem einen Raum jemand sprechen hören – aber so eigentümlich, mehr wie ein Hund oder ein wildes Tier …« – »Nein«, sagte ich, »nach allem, was ich weiß: Tiere wohnen in dem Schloß gar nicht. Fast gar nicht.« Pause.

      »Überhaupt …«, sagte Herr Direktor Teichmann und sah sich um, »hier ist nichts los! Finden Sie nicht auch?« – Wir bestätigten, daß hier nichts los wäre. »Wissen Sie«, sagte der Direktor, »wenn man sich wirklich amüsieren will: da gibt’s ja nur Berlin. Oder Paris. Aber sonst nur Berlin. Is doch ’n andrer Zuch. Was?« – »Hm –«, machten wir. »Ich finde es hier auch gar nicht elegant!« sagte Frau Direktor Teichmann. Und Fräulein Papst: »Ich habe mir das ganz anders vorgestellt.« Und Herr Klarierer: »Wo gehn wir denn heute abend in Stockholm hin?« Frau Direktor Teichmann aber wollte nirgends mehr hingehn; sie hätte sich vorhin so aufgeregt, im Schloß … Inzwischen hatte mir die Prinzessin einen Ring abgedreht, einen Manschettenknopf aufgemacht, alles unter dem Tisch – und ich fand, es sei nun genug. Denn wer weiß, was sie sonst noch … Und wir verabschiedeten uns, weil wir im Ort eine Verabredung hätten. »Fahren Sie nachher auch nach Stockholm?« – Nein, wir bedauerten.

      Wir bedauerten noch, als wir draußen auf den Wiesen standen und uns freuten: daß wir nicht nach Stockholm fahren mußten, daß wir in Schweden waren, daß wir Urlaub hatten … »Was kommt da?« sagte die Prinzessin, die Augen hatte wie ein Luchs. Durch die Wiesen bewegte sich eine dünne Reihe kleiner Gestalten, auf einem schmalen Wege. »Was ist das –?«

      Es kam näher.

      Kinder waren es, kleine Mädchen, artig aufgereiht, wie Perlchen an der Schnur, immer zwei zu zwei. Eine herrisch aussehende Person ging an ihrer Spitze, sah sich öfter um – keines sprach. Nun waren sie nahe bei uns, wir traten beiseite und ließen den Zug vorüber. Die Führerperson warf uns einen glitzernden Blick zu. Die Kinder trappelten dahin. Wir sprachen nicht, als sie vorbeizogen. Ganz zum Schluß ging ein Kind allein; es ging, wie wenn es von jemandem gezogen würde, es hatte verweinte Augen, schluckte manchmal im Gehen vor sich hin, aber es weinte nicht. Sein Gesicht war auch nicht verschwollen, wie es verheulte Kinder haben … es sah vielmehr leergeweint aus, und in den bräunlichen Haaren lag ein goldner Schimmer. Es sah uns an, so müde und gleichgültig, wie es einen Baum angesehn hätte. In einem Anfall von Übermut und Kinderliebe steckte ihm die Prinzessin zwei kleine Glockenblumen, die wir gepflückt hatten, in die Hand. Das Kind zuckte zusammen, dann sah es auf, seine Lippen bewegten sich; es wollte vielleicht etwas sagen, danken … da drehte sich vorn die Person um, die Kleine beschleunigte ihre Schritte und hoppelte ängstlich der Schar nach. Staub und das Geräusch der marschierenden Kinderfüße. Dann war das Ganze vorüber.

      »Merkwürdiges kleines Mädchen«, sagte die Prinzessin. »Was sind denn das für Kinder? Wir wollen nachher einmal fragen … Peter, mein Sohn, gibt es hier eigentlich Nordlicht? Ich möchte so gern mal ein Nordlicht sehn!«

      »Nein«, sagte ich. »Doch, ja. Aber alles, was man sehn will, meine Tochter, findet immer grade in dem Monat statt, wo man nicht da ist … Das ist so im Leben. Aber das bekommst du erst in der nächsten Klasse. Nordlicht – ja …«

      »Ich denke es mir wundervoll. Ich habe mal als Kind im Konversationslexikon eins gesehn – das war überhaupt eine Welt für sich, das Lexikon, mit den kleinen Seidenpapierblättchen … Und da waren sie abgebildet, die Nordlichter, ganz bunt und groß, sie sollen ja über den halben Himmel gehn. Ich glaube, ich hätte eine ungeheure Angst, wenn ich das mal sehe. Denk mal, große, bunte Lichter am Himmel! Wenn das nun herunterkommt! Und einem auf den Kopf fällt! Aber sehn möchte ich es schon mal …«

      Blaßblau wölbte sich der Himmel über uns; an einer Stelle des Horizonts ging er in tiefes Dunkelblau über, und da, wo die Sonne vorhin untergegangen war, leuchtete es gelbrosig, es schimmerte und blinkte nur noch ein wenig. »Lydia«, sagte ich, »wollen wir uns ein Nordlicht machen?« – »Na …« – »Sieh mal«, sagte ich und deutete mit dem Finger nach oben, »siehst du, siehst du – da – da ist es –!«

      Wir sahen beide fest nach oben – wir hielten uns an den Händen, Pulsschlag und Blutstrom gingen von einem zum andern. In diesem Augenblick hatte ich sie so lieb wie noch nie.

      Und da sahen wir unser Nordlicht.

      »Ja –«, sagte die Prinzessin, leise, damit sie es nicht verscheuchte. »Das ist ja wunderbar. Ganz hellgrün – und da – rosa! Und Kugelstreifen – und das da, ganz spitzhoch … Sieh mal, sieh mal!« Jetzt wagte sie es, schon lauter zu sprechen, denn nun leuchtete uns das Nordlicht wie wirklich. »Das sieht aus wie eine kleine Sonne«, sagte ich. »Und da, wie geronnene Milch, und da, weiße Zirruswölkchen … blau … ganz hellblau!« – »Guck, und am Horizont geht es gewiß noch weiter – da ist alles ganz silbergrau. Daddy, ist das schön!«

      Wir standen still und sahen nach oben. Ein Wagen klapperte vorüber und schreckte uns auf. Der Bauer, der auf dem Bock saß und freundlich grüßte, sah nun auch nach oben, was es da wohl gäbe. Wir sahen erst ihn an, dann die Wiesen, die ein wenig kalt und grau dalagen. Wir lächelten, wie beschämt. Dann blickten wir wieder zum Himmel auf. Da war nichts. Er lag glatt, blau und halbhell. Da war nichts.

      »Peter