Das Mitgefühl aller im Raum Anwesenden galt Bernd Hoferrichter, dessen dichtes Haar inzwischen graue Strähnen zeigte und in dessen Gesicht sich im Laufe der vergangenen Wochen tiefe Sorgenfalten eingegraben hatten. Dazu hatte er einiges an Gewicht verloren und selbst seine zuvor so aufrechte Körperhaltung war mittlerweile sichtlich gebeugt. Man sah ihm an, dass eine gewaltige Last ihn niederdrückte. Erschwerend kam jetzt noch die Sorge um sein ungeborenes Kind hinzu …
Schwester Hildegard, die dem Chefarzt die Krankenakte abnahm, konnte beobachten, mit welch beinahe krampfhafter Intensität der attraktive junge Mann fast hypnotische Blicke auf den Chefarzt richtete, der seine Lebensgefährtin am Gehirn operiert hatte – so, als wolle er ihn kraft seines Willens dazu zwingen, endlich ein Wunder zu vollbringen, indem er seine Liebste ganz schnell gesund machte …
Das Herz der erfahrenen Krankenpflegerin krampfte sich vor Mitleid zusammen. Was der treue Besucher in diesen Tagen und Wochen erlebte, hatten im Laufe ihrer Berufsjahre Tausende vor ihm gleichfalls durchgemacht und mit jedem einzelnen hatte sie mitgefühlt …
Nach Beendigung der Visite würde sie ihm sagen, dass bei sehr sehr vielen die Wünsche nach völliger Genesung ihrer Liebsten in Erfüllung gegangen waren. Vielleicht vermochte ihm das die Kraft zu verleihen, am Erfolg der Heilung nicht zu zweifeln, sowie den Mut, den bisher eingeschlagenen Weg der mentalen Unterstützung der Kranken keinesfalls zu verlassen.
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Wenigstens etwas Positives hatte sich an diesem Tag ereignet: Die Kriminalpolizei hatte Bernd Hoferrichter noch am Abend mitgeteilt, dass der Autofahrer, welcher den Unfall mit der Radfahrerin Maja Steinmetz verursacht hatte, gefasst war! Die ebenfalls im Unfallwagen sitzende Freundin des Fahrzeughalters hatte es nach Wochen gütlichen Zuredens endlich geschafft, ihren seinerzeit unter Alkoholeinfluss fahrenden Freund zu veranlassen, sich der Polizei zu stellen und die Tat, die ihm unheimlich Leid tat, zu gestehen.
Die Angst davor, den Führerschein zu verlieren und damit auch seine Arbeitsstelle, hatten bedingt, dass er sein Schweigen so lange durchgehalten hatte. Die Furcht vor den fälligen Konsequenzen waren auch die Ursache für sein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort und die unterlassene Hilfeleistung gewesen! Der an und für sich vernünftige und im Grunde nicht schlechte, sondern hilfsbereite Mann hatte selbst sehr unter seiner unglaublichen Handlungsweise gelitten, jedoch die Angst, seine Existenzgrundlage – er war Vertreter! – zu verlieren, hatte ihn zum Stillschweigen verdammt. Seine Freundin jedoch hatte seitdem versucht, ihm ins Gewissen zu reden und endlich für seine Handlung einzustehen. Sie wusste am besten, dass er selbst niemals Ruhe finden würde, mit seiner verheimlichten Schuld.
Dann endlich, als in einer Münchner Lokalzeitung, die darüber groß berichtet hatte, gemeldet wurde, es sei eine traurige Tatsache, dass das Opfer immer noch im Koma liege und es sei, wie man jetzt erst wisse, im zweiten Monat schwanger, war der Widerstand des Fahrers in sich zusammengebrochen.
»Nach seinem Geständnis wirkte der Mann beinah erleichtert«, erklärte Bernd der Kripobeamte. »Seine Freundin hatte ihm zudem gedroht, sich von ihm zu trennen, falls er für seine Tat nicht endlich Verantwortung übernähme und die Konsequenzen auf sich nähme.«
Auch Hildegard Pleitgen las den Artikel in der Zeitung und ein leises Schamgefühl durchströmte die Krankenschwester dabei. Hatte sie doch in irgendeinem düsteren Winkel ihres Herzens eine ganz andere Person für schuldig an Majas Leid befunden. Und sie hatte es sogar laut ausgesprochen … Insgeheim leistete sie Tina Maurer Abbitte für ihren falschen Verdacht.
Insgeheim jedoch – wenn auch ganz leise – machte sich immer noch ein Gefühl in der erfahrenen Menschenkennerin bemerkbar, welches ihr eindringlich ins Ohr flüsterte, es sei auf alle Fälle angebracht, der »Modepuppe« ganz genau auf die schlanken Finger mit den sorgfältig manikürten, viel zu langen knallroten Krallen, zu schauen …
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»Maja, mein Schatz! Lass’ uns allmählich den Rückweg antreten, ja?«, hörte die junge Frau die wie aus weiter Entfernung an ihr Ohr dringende Stimme Claudia Ritters.
»Wie?« Verwirrt wandte sie sich der Sprecherin zu. »Was sagtest du?« Es war für Maja nicht leicht, sich von den Gedanken an Tina, Bernd und Peter zu lösen. Vor allem Tinas Gefühlslage machte das Ganze für sie so kompliziert.
»Ich habe mir erlaubt, zu zahlen, Liebes! Ich denke, es wäre gut, den nicht ganz kurzen Weg in Angriff zu nehmen, der noch vor uns liegt!«
»Ja, natürlich, Tantchen! Wenn es dir zu viel wird mit dem Laufen, nehmen wir uns ein Taxi; du darfst dich nicht überanstrengen!«
Bei dem herrlichen Sommerwetter begegnete ihnen eine Reihe von Spaziergängern. Meist handelte es sich um Angestellte umliegender Firmen, die im Englischen Garten ihre Mittagspause verbracht hatten, um Mütter mit kleinen Kindern oder um ältere Leute, die den herrlichen Park, samt kleinem See und den uralten, Schatten spendenden Bäumen genießen wollten.
Da sich wiederum eine Reihe von Claudias Bekannten unter ihnen befand, mussten sie erneut mehrmals stehenbleiben, damit Majas Tante sich mit ihnen unterhalten konnte. Das verschaffte der jungen Lehrerin die Muße, sich in Ruhe zu überlegen, woran es lag, dass sie ständig mit ihren Gedanken abschweifte.
»Eigentlich ist es viel mehr als ein bloßes Abgleiten in andere Befindlichkeiten«, überlegte sie. ‚Es handelt sich bei mir um eine regelrechte Versetzung in andere Wirklichkeiten und in andere Zeiten und auch Orte! Und das kann unmöglich normal sein. Mit meinem Kopf stimmt etwas nicht.’
Darüber schien es für sie nun keine Frage mehr zu geben. Entsetzt über die sich daraus ergebenden Konsequenzen, beschloss Maja, am Abend, in Claudias Wohnung, wo es sich ungestört plaudern ließe, die Sache zur Sprache zu bringen.
»Ich kann das nicht einfach so weiter laufen lassen! Da muss etwas unternommen werden. Falls mir das während des Unterrichts widerfahren sollte – und das wird es mit Sicherheit, weil ich dieses Abdriften überhaupt nicht zu steuern vermag – wäre das vor meinen Schülern eine Katastrophe!
Die Kinder würden sich ängstigen, die Eltern und Kollegen wären verstört und im schlimmsten Fall würde man mir wegen Geisteskrankheit kündigen …’
Ein leiser Jubelschrei ihrer Tante rief Maja in die Wirklichkeit zurück.
»Ach nein, so was! Was für ein reizender Zufall, dass ich Sie hier treffe, Herr Doktor!«
Vollkommen perplex konnte Maja erleben, wie ihre Tante einem jungen, unverschämt gut aussehenden, großen Mann mit schwarzen Haaren und freundlichen dunkelbraunen Rehaugen, die Hand zum Gruß entgegen streckte. Der Fremde lächelte sie liebenswürdig an, wobei er ausnehmend schöne weiße Zähne präsentierte.
»Darf ich vorstellen?«
Tante Claudia schien auf das Angenehmste überrascht. »Das ist Oberarzt Doktor Kurtuluz, der mich vor kurzem in der Klinik aufs Beste behandelt hat, sodass ich bereits wieder so fit bin, um längere Spaziergänge wagen zu können! Und das ist meine Lieblingsnichte, Maja Steinmetz!«
»Doktor Kurtuluz?«
Maja verstand allmählich die Welt nicht mehr. Bei dem Mann handelte es sich doch ihres Wissens um einen Studenten der Medizin, der sich das Geld fürs Studium durch einen Job als Taxifahrer verdiente! Bei ihm war sie doch am Münchner Hauptbahnhof in den Wagen gestiegen und er hatte sie in die Elisabethstraße gefahren …
Oder nicht? Allmählich zweifelte Maja an allem. Es wurde Zeit, dass sie in psychiatrische Behandlung kam, ehe ihre absurden Wahnvorstellungen sich immer weiter verstärkten.
»Freut mich! Guten Tag«, murmelte sie unverbindlich und ohne sein Lächeln zu erwidern.
»Den wünsche ich Ihnen auch«, gab der Arzt charmant zur Antwort. »Ihre Tante hat während ihres Klinikaufenthalts eine Menge über Sie erzählt!«
Das war Maja sichtlich unangenehm. Als er ihre Hand für