Claudia fiel auf, dass Maja – noch während die Frau redete – erneut mit ihren Gedanken ganz weit weg driftete. Als sie ihre Nichte unter dem Tisch leicht mit einer Fußspitze anstieß, lachte diese zwar noch pflichtschuldigst, weil Claudia das ebenfalls tat; aber es war deutlich, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, worum es sich eigentlich gehandelt hatte.
Der Tante bereitete diese ständige, sich in immer kürzeren Abständen wiederholende, geistige Abwesenheit allmählich ernste Sorgen. Es musste doch endlich Besserung eintreten …
*
Äußerst unwohl fühlte sich auch Maja. Obwohl an der Seite ihres Verlobten und direkt neben ihren Freunden sitzend, spürte sie ganz deutlich und schmerzlich, nicht dazu zu gehören. Es war eine ungewohnte, eigenartige und überaus verstörende Empfindung: Mitten unter ihnen, war ihr dennoch klar, irgendwie nicht mehr zu ihnen zu gehören!
»Wenn ich die Hand ausstrecke, ist es mir möglich, jeden einzelnen von ihnen zu berühren – aber ich weiß doch ganz genau, dass sie mich nicht bemerken würden! Selbst wenn ich sie direkt ansprechen würde, bekäme ich von ihnen keine Antwort …’
Die junge Frau zog die Schultern hoch; trotz strahlenden Sonnenscheins fröstelte sie auf einmal.
»Bin ich vielleicht tot?« Diese Frage schoss ihr urplötzlich durch den Kopf – und sie klang in ihren Ohren nicht einmal besonders absurd.
Diese Möglichkeit erschien ihr auf einmal durchaus plausibel. Sonderbarerweise erschreckte sie der Gedanke gar nicht übermäßig. Im Gegenteil! Endlich besaß sie Klarheit über den merkwürdigen Zustand, in dem sie sich befand.
»Ich hätte zwar noch recht gerne weiter gelebt«, überlegte sie nüchtern. ‚Aber so schlimm, wie immer befürchtet, ist es gar nicht, tot zu sein. Wenn ich es will, kann ich nach wie vor bei meinen Freunden sein, kann Anteil nehmen an ihrem Leben, mich mit ihnen freuen und ich kann versuchen, sie mit meinen Gedanken zu beeinflussen.
Ich vermag alles zu hören, was sie sagen – ja, ich glaube sogar, sogar ihre Gedanken sind mir kein Rätsel mehr: Ich kann sie lesen wie ich sonst ein Buch gelesen habe.’
Versuchsweise widmete Maja sich nun Tina, die eben damit beschäftigt war, Bernd »Trost zu spenden«. Offensichtlich hielt sie sich etwas zurück, denn ihr Freund Peter saß ja daneben.
Das übliche unverbindliche Gerede war es, dass er jederzeit zu ihr und Peter kommen könne, wenn düstere Gedanken ihn zu überwältigen drohten. Sie als seine besten Freunde wären Tag und Nacht für ihn da – das sei doch ganz selbstverständlich und er solle das niemals und unter keinen Umständen vergessen …
Dann fügte Tina noch hinzu, dass sie mit ihm fühle und ihm jederzeit helfen wolle, den Schmerz der endgültigen Trennung zu ertragen.
Da jedoch griff Peter Daubner ein. »Aber Tina! Ich bitte dich! Noch lebt Maja und wir haben allen Grund zu der Annahme, dass sie wieder gesund werden wird! Die Ärzte machen – wenn auch vorsichtig – Hoffnung auf völlige Genesung, obwohl es sehr lange dauern wird, bis Maja wieder so sein wird, wie wir sie kennen und lieben! Und du tust gerade so, als müssten wir unsere beste Freundin demnächst begraben!«
Der Anwalt schüttelte den Kopf und betrachtete die auch heute wieder etwas übertrieben geschminkte Tina vorwurfsvoll.
»So hab’ ich das doch gar nicht gemeint!«, behauptete diese schnell und bedachte ihrerseits Peter mit einem nicht gerade liebevollen Blick.
»Ich versteh’ schon, meine lieben Freunde!«, versuchte Bernd die Wogen zu glätten. Was er jetzt am allerwenigsten brauchen konnte, war ein dummer und überflüssiger Streit zwischen Tina und Peter.
Maja allerdings hatte genau verstanden, was ihre angeblich »gute Freundin« in Wahrheit bewegte! ‚Sie ist tatsächlich rasend in Bernd verliebt!«, stellte sie verblüfft fest. ‚Ich hab’s ja schon irgendwie seit langem geahnt, dass sie Bernd im Grunde für sich haben will, wollte es aber nie wahrhaben. Dennoch stimmt es; ich fühle es jetzt erst ganz deutlich!«
Erst war Maja schrecklich wütend auf die Rivalin. Es fühlte sich an wie »der Feind im eigenen Haus«! Als sie Tina daraufhin noch ein wenig genauer betrachtete, indem sie gleichsam in den Kopf der Freundin kroch, um deren Gedanken zu lesen, glaubte sie, zusätzlich noch etwas anderes zu bemerken. Und obwohl sie sich damit ganz gewaltig irrte, war es geeignet, sie um einiges versöhnlicher zu stimmen.
Maja glaubte nämlich, Anzeichen dafür zu erkennen, Tina selbst wisse gar nichts von der wahren Natur ihrer Zuneigung zu Bernd Hoferrichter! Sie mache sich selbst vor, es seien rein freundschaftliche Gefühle, die sie für Majas Verlobten empfinde. Heimtücke und hinterlistige Ränkespiele wären ihr im tiefsten Herzen fremd; auch Peters Andeutungen, sie rechne anscheinend irgendwie mit Majas baldigem Ableben – aus welchem Grunde auch immer – mussten Tina verletzen. Wie konnte ihr Freund sie nur so gründlich missverstehen?
Was Maja auf einmal fühlte, war tatsächlich Mitleid. Und zwar mit allen dreien. Bernd war, wie sie sehen konnte, ziemlich aufgelöst vor Sorge um sie – etwas, was sie überhaupt nicht verstand! Ihr fehlte doch überhaupt nichts …
Dann war da das Mitgefühl für Tina, die womöglich auf dem besten Wege war, sich rettungslos in etwas zu verrennen! Maja glaubte nämlich nicht, dass Bernd sich jemals ausgerechnet ihr zuwenden würde. Nein, sie wusste es sogar ganz definitiv, weil es ihr möglich war, auch seine Empfindungen zu lesen: Erstens war Tina absolut nicht sein Typ und zweitens war er nicht der Mann, der seinem Freund die Geliebte ausspannte – selbst wenn die Gelegenheit günstig sein sollte.
Außerdem empfand sie Mitleid mit Peter. Er, der Aufrichtige und Ehrliche konnte am wenigsten dafür – und wäre am Ende der Verlierer, sollte Tina auf ihrem Irrweg weitergehen, sich ernsthaft in Bernd verlieben und mutwillig ihre Beziehung mit Peter aufs Spiel setzen …
Maja wünschte sich, es wäre ihr möglich, rettend in das komplizierte Verwirrspiel eingreifen zu können.
*
»Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Patientin wird sich in den kommenden Tagen im Zustand der Krisis befinden!«
Der Chefarzt der Klinik und anerkannte Gehirnspezialist hielt Visite am Krankenbett der derzeit bekanntesten Patientin des »Krankenhauses links der Isar«. (So nannte man die Einrichtung im Gegensatz zu der Klinik »Krankenhaus rechts der Isar«.)
Er reichte dem tapfer jeden Tag an ihrem Bett etliche Stunden ausharrenden Besucher Bernd Hoferrichter die Hand zur Begrüßung, wobei er sich mühsam ein Lächeln abrang.
»Das bedeutet, in einigen Tagen wird sich entscheiden, wie der weitere Lebensweg Ihrer Verlobten verlaufen wird. Sie befindet sich derzeit in einem Zustand, den wir uns nicht erklären können. Zumindest haben wir trotz sorgfältigster Untersuchungen in ihrem Gehirn keinerlei Spuren entdeckt, die ihren dramatischen Zustand rechtfertigen würden. Ich gestehe, dass wir vor einem Rätsel stehen!«
Die den Chef umringenden Oberärzte, Stationsärzte und Assistenzärzte, sowie die Stationsschwester und einige Medizinstudenten und die Lernschwester warfen heimlich Blicke auf den Freund der Schwerverletzten, deren Schicksal sich bald entscheiden sollte.
Es gab keinen in diesem Krankenzimmer, der nicht mit ihm fühlte. Aber in stiller Übereinkunft unterdrückten sie skeptische Mienen und hoffnungsloses Kopfschütteln. Um professionelle Sachlichkeit bemüht, die ihnen in diesem speziellen Fall nicht leicht fiel, zeigten alle mehr oder weniger ausdruckslose Mienen.
Im Grunde hofften die Ärzte auf ein Wunder – und die ereigneten sich bekanntermaßen äußerst selten. Die Studenten taten sich dabei am schwersten – hatte der Klinikchef sie doch vor Betreten des Patientenzimmers darüber