Die Frauen überquerten die wie immer stark frequentierte Leopoldstraße, eine der Hauptachsen München-Schwabings, die vom nach Süden weisenden Siegestor nach Nordschwabing führte. Dann waren nur noch die Kaulbach- und die Königinstraße zu überschreiten, ehe man die kurze, schmale Thiemestraße erreichte, von wo aus sie endlich Münchens Prunkstück und zugleich »grüne Lunge«, den »Englischen Garten« nämlich, betreten könnten. Danach war es nur noch ein kurzes Stück bis zu einer kleinen Brücke über den Schwabinger Bach.
Maja hatte insgeheim Sorge, es könnte Claudia doch zu viel werden und sie warf ihrer Begleiterin immer mal wieder einen prüfenden Seitenblick zu. Jedoch ihre Tante schien guten Mutes und auch bei genügend Kräften zu sein, um die Anstrengung zu meistern. Sie schien regelrecht aufzublühen und strahlte förmlich.
Einige Bekannte begegneten ihnen noch und mussten natürlich begrüßt werden; aber jetzt drängte Maja diskret darauf, die Unterhaltung möglichst kurz zu halten.
»Meine Tante muss sich bald wieder setzen«, begründete sie jeweils den etwas abrupten Abbruch der Gespräche. Alle hatten dafür natürlich Verständnis, nachdem sie von Claudias Krankheit erfahren hatten.
Endlich vermochten sich Tante und Nichte im Schatten alter Ahornbäume auf einer Bank, eingerahmt von Fliederbüschen, niederzulassen in dem 1789 an der Isar entstandenen Park, in einem der frühesten und größten Landschaftsgärten Deutschlands.
»Oh! Schön, dass ich endlich sitzen kann«, seufzte Claudia unwillkürlich. Aber sie war doch ungeheuer stolz auf ihre Leistung. Maja bestätigte das aufs Lebhafteste: »Ganz famos hast du das gemacht, Tantchen!«
Danach verfiel die junge Frau in Schweigen und Claudia dachte nicht daran, sie zu stören. Sie war nur glücklich darüber, endlich wieder eine längere Strecke gehen zu können und die herrliche Natur ringsum, sowie den warmen Sonnenschein zu genießen.
Um Maja allerdings versank erneut die Wirklichkeit. Keine Spur von »Englischem Garten«, kein Gedanke mehr an München überhaupt. Selbst Tante Claudia war ihrer Erinnerung entschwunden. Maja konnte nichts dagegen tun. Es fühlte sich wiederum an, als sei sie einer Macht ausgeliefert, deren Zwängen sie nichts entgegenzusetzen hatte.
Sie sah ihren Verlobten Bernd, der auf einem Stuhl in einem Raum saß, der Maja unbekannt war. Er saß in angespannter Haltung einem älteren Mann in weißem Kittel gegenüber, der hinter einem unaufgeräumten Schreibtisch Platz genommen hatte. Ein Arzt ganz ohne Zweifel!
Vage erinnerte er Maja an jemanden, aber sie wusste nicht, an wen. Doch, sie wusste es. Aber das war doch purer Quatsch! Der Mediziner besaß eine auffallende Ähnlichkeit mit dem freundlichen Portier in dem Kufsteiner Hotel, der ihr das Taxi zum Bahnhof gerufen hatte … Wieso war er jetzt auf einmal ein Doktor der Medizin? Einerlei!
Wichtig war bloß, was Bernd mit einem Arzt zu tun hatte? War er denn krank?
»Weshalb weiß ich denn nichts davon?«, fragte sie sich beunruhigt. Das Gespräch schien sehr ernst zu sein. Hatte er ihr eine schlimme Krankheit verschwiegen, um sie nicht zu beunruhigen? Leider vermochte sie kein Wort von dem Gesprochenen zu verstehen …
»Ich muss Bernd das nächste Mal, wenn wir uns sehen, ernsthaft rügen! Unter Liebespaaren darf es keine Geheimnisse geben.«
Ohne es zu bemerken, hatte Maja den letzten Satz laut ausgesprochen und ihre Tante warf ihr einen erschrockenen Blick zu. Selbstverständlich war Claudia neugierig und wollte gerade nachfragen, um welche Geheimnisse es sich denn möglicherweise handelte. Da fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass sie das Ganze vermutlich nichts anging.
Wenn Maja es wollte, würde sie sie freiwillig einweihen – ansonsten war es klüger – auf alle Fälle jedoch diskreter – nicht aufdringlich zu sein. In diesem Augenblick bemerkte die Ältere, dass ihre Nichte mit ihren Gedanken wiederum ganz weit weg zu sein schien.
Diese seltsamen Zustände der totalen Geistesabwesenheit häuften sich mittlerweile stark – und dauerten auch zunehmend länger an. Das war selbst Claudia in der relativ kurzen Zeit, die Maja mit ihr verbracht hatte, aufgefallen. Langsam empfand Claudia Ritter diesen Zustand als ziemlich bedenklich. »Normal« schien ihr das nicht mehr zu sein …
»Aber, was heißt heutzutage schon »normal«?«, fragte sie sich dann. ‚So gesehen ist doch so vieles auf der Welt komplett verrückt – und wir finden es inzwischen ganz in Ordnung – oder regen uns zumindest nicht mehr darüber auf!«
Dennoch ließ Claudia Ritter ihren Blick auf Maja ruhen, die sich nach wie vor in einer anderen Welt aufzuhalten schien.
»Oh! Jetzt erkenne ich den Arzt«, murmelte Maja auf einmal. »Nein, er ist kein österreichischer Portier, sondern ein Bayer! Er hat mir doch im Münchner Hauptbahnhof die Bratwurst und die Diät-Cola verkauft! Da trug er allerdings ein kariertes Trachtenhemd und einen alten Filzhut mit Feder. Merkwürdig!
In Wirklichkeit ist er anscheinend ein Mediziner und Bernd ist sein Patient! Wie kann das denn sein? Er hält sich doch zusammen mit unseren besten Freunden in Österreich auf!«
Maja atmete schwer und Claudia war versucht, sie in die Wirklichkeit zurückzuholen. Dann jedoch stockte sie und zog die Hand, mit der sie ihre Nichte am Arm hatte rütteln wollen, zurück, denn Maja redete bereits weiter.
»Mein Gott, wie betroffen mein geliebter Schatz aussieht! Es wird ihm doch nichts Schlimmes fehlen?«
Gequält stöhnte die junge Frau auf und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Da war es mit Claudias Zurückhaltung vorbei. Energisch legte sie ihren Arm um die Schulter ihrer Nichte, drückte deren blonden Kopf an ihre Brust und sprach beruhigend auf die junge Frau ein.
»Mein Herzchen! Komm’ zu dir! Du bist in der Wärme eingeschlafen und hast nur schlecht geträumt«, versicherte sie ihr eindringlich. »Mit Bernd ist bestimmt alles in Ordnung. Er ist in seinen geliebten Bergen und erfreut sich an der grandiosen Natur – und bedauert es gewiss, dass du nicht bei ihm bist, sondern bei deiner ollen Tante!«
»Ach, so? Ich habe nur geträumt?«
Maja riss die Augen auf. Sie klang erstaunt, aber auch sehr erleichtert. Es hörte sich an, als erwache sie tatsächlich aus tiefstem Schlaf.
»Habe ich geredet?«, fügte sie dann etwas geniert hinzu.
»Wie ein Wasserfall!«, behauptete Claudia.
Als sie die betroffene Miene ihrer jungen Verwandten bemerkte, schwächte sie diese Bemerkung umgehend ab.
»Ach, Unsinn, mein Schatz! Glaub’ mir kein Wort! Ich habe nur Spaß gemacht. Es schien mir nur so zu sein, dass du dir irgendwelche Sorgen um deinen Verlobten machst. Aber ihm geht es bestimmt gut: Er hat Urlaub und ist mit guten Freunden unterwegs. Nur dich wird er schmerzlich vermissen!«
Claudia führte noch eine ganze Reihe von Argumenten an, die alle Bernds gute Verfassung unterstreichen sollten, aber sie merkte bald, dass Maja ihr überhaupt nicht mehr zuhörte.
Erneut schien die junge Frau im Geiste ganz weit weg zu sein. Jetzt machte Claudia Ritter sich tatsächlich ernsthaft Sorgen um ihre schöne Nichte. So hatte sie jedenfalls die temperamentvolle, immer überlegte und beinahe zu vernünftige Maja noch nie erlebt! Was mochte nur in ihr vorgehen und was konnte ihren seltsamen Zustand bloß verursacht haben?
Natürlich waren Claudia, seitdem sie ihre Nichte in ihrem Schlafzimmer angetroffen hatte, deren befremdliche Absencen nicht verborgen geblieben … Gab es zwischen ihr und ihrem Verlobten etwa ein Zerwürfnis? War sie deshalb allein und vorzeitig aus dem gemeinsam geplanten Urlaub zurückgekehrt?
Steckte womöglich eine andere Frau dahinter?
Tante Claudia war in dieser Hinsicht – wie viele ihrer älteren Geschlechtsgenossinnen – ein gebranntes Kind. Es passierte leider gar nicht so selten, dass einem eine andere, der man als Freundin oder guten Bekannten voll vertraute, hinterrücks den Freund oder Verlobten – oder gar den Ehemann – ausspannte! Und die eitlen Kerle machten auch noch mit … Männer!
Innerlich seufzend wandte Claudia