Maja musste schmunzeln.
»Da machen Sie sich mal keinen Kopf, Herr Fechner! Ich bin Lehrerin und habe noch fast sechs Wochen Sommerferien vor mir. Ich gehe davon aus, dass meine Tante Mitte September, wenn die Schule wieder beginnt, das Gröbste überstanden haben wird und sich wieder einigermaßen in der Lage fühlt, ohne fremde Hilfe auszukommen.
Von gelegentlichen Handreichungen oder Einkäufen schwererer Gegenstände mal abgesehen! Aber dafür ist dann ja wohl ihr Sohn Jens wieder zuständig!«, fügte sie mit ein wenig Nachdruck hinzu.
Insgeheim war sie schon verstimmt, dass der junge Kerl einfach so mir nichts, dir nichts, verschwunden war. Er hatte sich demnach also nicht nur auf ihre Gutmütigkeit, sondern auch auf die Hilfsbereitschaft eines Nachbarn verlassen … »Verantwortungsgefühl« sah in Majas Augen etwas anders aus.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin«, gestand Rolf Fechner. Als er Maja jetzt den Schlüsselbund überreichte, versuchte er, ihr die einzelnen Schlüssel zu erklären: Wohnungs-, Haustür-, Speicher-, Kellerabteil- und Waschküchenschlüssel. Aber diese Dinger waren der jungen Frau keineswegs unbekannt – sie war oft genug schon hier gewesen.
Zum Schluss ließ er Maja noch wissen, dass er, falls sie nicht aufgetaucht wäre, den Auftrag selbstverständlich zurückgegeben hätte.
»Ich hatte schließlich Claudia mein Wort gegeben, mich um sie zu kümmern, falls ihr Sohn verhindert sein sollte.«
Das fand die junge Lehrerin zwar sehr sympathisch, aber fast schon zu übertrieben. Der Auftrag schien doch überaus wichtig für ihn zu sein! Interessant erschien ihr auch die Tatsache, dass Fechner bei ihrer Tante von »Claudia« sprach: Standen sich die beiden womöglich näher? Sie beschloss, das bald heraus zu bekommen.
So ganz wurde Maja, die sich noch einmal für die Schlüssel bedankte, aus Rolf Fechner noch nicht schlau. Im Laufe des Gesprächs war ihr erneut die Ähnlichkeit mit jemandem, der ihr absolut nicht einfallen wollte, stark aufgefallen. Aber in dem Augenblick, in dem sie die doppelt abgesperrte Wohnungstür aufschloss, hatte sie den hilfsbereiten Herrn auch fast schon wieder vergessen: Wichtig war nur noch, wie es ihrer Tante ging.
Leise machte Maja die Tür hinter sich zu und ließ ihren Rucksack im Flur neben dem Schuhschrank stehen und eilte auf Zehenspitzen den langen Gang entlang. Die Türen von Küche, Ess- und riesigem Wohnzimmer, sowie einem kleineren Gästezimmer standen offen, nur diejenigen von Bad und Schlafzimmer ganz am Ende des Ganges waren geschlossen. Falls Claudia Ritter schlief, hatte sie demnach weder das Klopfen an der Wohnungstür, noch das Klingeln hören können.
Maja wollte ihre Tante zwar nicht unbedingt aufwecken, aber nach ihr zu sehen drängte es sie sehr. Endlich würde sie sich mit eigenen Augen vom Gesundheitszustand ihrer Verwandten überzeugen können. Seit sie am Hauptbahnhof in das Taxi gestiegen war, hatte sich in ihr ein vages Gefühl breit gemacht, sie könnte möglicherweise eine Überraschung erleben. Hoffentlich war es keine der unangenehmen Art!
Sachte drückte die junge Frau auf die Klinke der Schlafzimmertür um sie einen Spalt weit zu öffnen. Im Raum war es dämmerig, aber nicht allzu finster, da nur die luftigen Übergardinen, aber nicht die Rollläden geschlossen waren. Maja hörte ein leises Schnarchen, was sie nicht nur erheiterte, sondern auch irgendwie beruhigte: Claudia schien tief und fest zu schlafen.
Immer noch auf Zehenspitzen – bereits im Zug hatte Maja die schweren Bergstiefel gegen leichte Ballerinas ausgetauscht – näherte sie sich dem breiten französischen Bett, in welchem ihre Tante wie üblich auf einem Berg von Daunenkissen seelenruhig schlummerte.
Sie sah eigentlich aus wie immer, wobei Maja eingestehen musste, keine genaue Ahnung zu haben, ob und in welchem Maße sich das Aussehen von Menschen verändern konnte, die kürzlich einen Schlaganfall erlitten hatten. Claudia Ritters feines ebenmäßiges Gesicht schien wie eh und je, nichts war verzogen oder schief – nur blass war sie, sehr blass.
Maja zog sich einen Sessel heran, um sich direkt neben das Bett zu setzen, von wo aus sie Claudia gut im Auge behalten konnte.
Während sie still dasaß und ihre Blicke durch das geräumige Zimmer und dessen geschmackvolle Ausstattung schweifen ließ – von den Möbeln und Lampen, bis zu den seidenen Vorhängen, zum Parkettboden und den passenden Teppichen – verfiel Maja erneut ins Träumen.
Über dem Bett hing seit Jahren eine gerahmte Grafik von Pablo Picasso, welche ein nacktes, ineinander verschlungenes Paar beim Liebesspiel zeigte. Es gehörte zu Majas Lieblingsstücken. Sie selbst hatte es vor Jahren in einer Galerie in der Mainzer Innenstadt erworben.
Das große Glück, sich einen Picasso leisten zu können, war dem Zufall zu verdanken gewesen, dass sich der damalige Besitzer des Kunstwerks in finanziellen Nöten befand und einem Notverkauf in der Galerie hatte zustimmen müssen. Maja hatte es seinerzeit Claudia zum fünfundvierzigsten Geburtstag geschenkt.
Ihre Gedanken drifteten ab und begannen, ihre ganz eigenen Wege zu gehen.
Auf einmal fühlte sie sich wiederum in die österreichischen Berge versetzt. Auf wundersame Weise befand sie sich zusammen mit ihrem Verlobten Bernd, sowie dem befreundeten Paar Peter und Tina auf dem Weg nach Sankt Johann. Wie im Zeitraffer erlebte Maja den gesamten ersten Wandertag der kleinen Gruppe.
Am zauberhaft gelegenen Hintersteiner See vorbei, hatte man die Ellmauer Halt im Kaisergebirge erstiegen und bei prachtvollem Wetter am Gipfel eine zweistündige Rast eingelegt. Keiner der vier hatte viel gesprochen. Die Natureindrücke waren so überwältigend, dass sogar die redefreudige Tina in beinahe ehrfürchtiges Schweigen verfiel und nur mit entzücktem Schauen und Staunen beschäftigt war.
Nach einer zünftigen Brotzeit, die sie sich redlich verdient hatten, streckte sich das Quartett kurzerhand in der Sonne aus und fiel alsbald in Schlaf – mit Ausnahme von Maja. Die junge Frau war von dem zauberhaften Ausblick so begeistert, dass sie gegen die Schläfrigkeit ankämpfte, als auch ihr die Augen zuzufallen drohten.
Besorgt, der trotz seiner dunklen Haare hellhäutige Bernd könnte sich im Schlaf durch die stärker werdende Sonneneinstrahlung einen fürchterlichen Sonnenbrand holen – trotz Benützung einer Creme – legte Maja ihm ein leichtes Papiertaschentuch aufs Gesicht. Da sich nicht das kleinste Lüftchen regte, flog das Tuch auch nicht davon.
Majas Blicke schweiften von der märchenhaften Umgebung, wozu auf einmal auch eine Schar neugieriger Bergdohlen gehörte, ab und verweilten stattdessen auf Peter und Tina. Beide lagen seitlich im dürren Berggras. Aber nicht einander zugewandt, sondern Rücken an Rücken.
Das erschien Maja irgendwie symptomatisch für die momentane Beziehung des Paares zu sein. Für sie deutlich spürbar, kriselte es bei ihnen seit geraumer Zeit.
Als Maja kürzlich daheim Bernd darauf aufmerksam machen wollte, hatte er allerdings vollkommen überrascht, ja, verständnislos reagiert.
»Wie kommst du denn darauf?«, hatte er Maja verblüfft gefragt und sie verwirrt angesehen.
Alles, was seine Liebste vorgebracht hatte – wie etwa die veränderte Körpersprache der beiden, der nicht mehr ganz so liebevolle Umgang miteinander, sowie die Tatsache, dass sie sich oft lange Zeit anschwiegen und zunehmend nur noch über Dritte miteinander kommunizierten – vermochte Bernd nicht zu überzeugen.
»Ach, das bildest du dir bloß ein, Schatz«, hatte er gemeint und sich gleich darauf wieder in der Lektüre der Tageszeitung vergraben. Maja wertete es allerdings als Anzeichen dafür, dass Bernd sie nur zu genau verstand und eine gewisse Angst davor verspürte, seine Verlobte könnte in ihrer eigenen Beziehung gewisse Defizite bemerken. Sie selbst bewertete ihre Beobachtung jedoch als weiteres kleines Indiz für eine mögliche Abkehr Tinas von ihrem Freund Peter …
Jetzt musste sie allerdings schmunzeln, als Bernd im Schlaf aufseufzte, als sich eine Fliege auf dem Papiertuch niedersetzte und zwar genau an der Stelle, wo sich seine Nase darunter befand!
Unwillig brummend wandte er den Kopf zur Seite. Aber er erwachte schließlich,