»Na, Schlafmütze! Wollen wir allmählich weitergehen?«, neckte ihn Maja und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Nach Sankt Johann dauert es noch eine ganze Weile. Aber ich bin sowieso dafür, dass wir uns unten in Ellmau nach einer Busverbindung umschauen! Die Sonne hat nicht nur dich müde gemacht: Auch ich habe gegen das Wegdämmern angekämpft und Peter und Tina schlafen immer noch wie die Murmeltiere!«
Maja deutete auf die beiden, die jetzt allerdings, als die halblaute Stimme zu ihnen durchdrang, ruckartig aufwachten und in die Höhe schossen. Bernd hatte wieder merkwürdigerweise weder auf ihren Kuss, noch auf ihre Worte reagiert.
»Jesses, mitten am helllichten Tag pennen! Unglaublich!« Peter war verblüfft, dass er als ausgesprochenes »Arbeitstier« dazu überhaupt im Stande war. Tina aber sagte gar nichts, sondern überprüfte nach dem Aufwachen lediglich mithilfe eines kleinen Taschenspiegels ihr Augen-Make-up.
Maja pickte das von Bernd achtlos weg geworfene Papiertüchlein auf, knüllte es zusammen und verstaute es in ihrem Rucksack, um es im nächsten Müllbehälter zu entsorgen. Es war schließlich ehernes Bergsteigergesetz – und im Übrigen Ehrensache – keinen Abfall in den Bergen zurück zu lassen.
»Danke – wem auch immer – dass er meine Nase davor bewahrt hast, morgen wie eine rote Ampel zu leuchten!«
Bernd grinste, stemmte sich hoch und reichte Tina die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Maja registrierte automatisch, dass Peter keinerlei Anstalten gemacht hatte, um seiner Tina aufzuhelfen. Aber wäre es nicht an Bernd gewesen, ihr – immerhin seiner Verlobten! – aufzuhelfen? Dann fiel ihr ein, dass er sie offenbar überhaupt nicht wahrnahm.
Und wenn schon, sei’s drum! So schlimm war es nun auch nicht, dass Bernd für Tina den Kavalier spielte und sie selbst dabei vernachlässigte. Solange es nicht zur Gewohnheit wurde …
Überhaupt: Wie sich Peter und Tina gegenseitig behandelten, war allein deren Sache, hatte sie nicht zu interessieren – und war von Peter auch bestimmt nicht böse gemeint gewesen – nur gedankenlos. Eben genau so, wie Männer nun einmal hin und wieder zu sein pflegten …
In dem Augenblick, als sich die vier an den Abstieg von der Ellmauer Halt machten, regte Claudia Ritter sich in ihren Kissen. Das weckte die Aufmerksamkeit der jungen Frau und sie wandte sich der Person auf dem pompösen französischen Bett zu, das von seinen Ausmaßen her eher für zwei Menschen konstruiert zu sein schien …
Majas Tante schlug ihre himmelblauen Augen auf – die angeblich in ihrer Jugendzeit so manchen Verehrer ins Träumen gebracht hatten – und gönnte ihrer Nichte ein strahlendes Lächeln. Das wiederum brachte Maja den hilfsbereiten Nachbarn ins Gedächtnis …
»Wie schön, Maja, dass du mich besuchen kommst!« Claudias angenehm warme Altstimme drang an Majas Ohr. »Jens hatte so etwas schon angedeutet. Aber ich will auf keinen Fall deine Sommerferienpläne durcheinander bringen! Komm’ her, meine Liebe, und lass’ dich drücken!«
Tante Claudia, deren halblanges, volles, aschblondes Haar mit einigen hell eingefärbten Strähnen auf dem Kissen rings um ihren Kopf ausgebreitet lag, streckte die Arme nach Maja aus; diese beugte sich nach vorne und ließ sich an Claudias Herz drücken. Nachdem sie die ältere Frau herzlich umarmt und geküsst hatte, wollte sie allerdings Antworten haben.
»Zuerst einmal, liebes Tantchen, wie fühlst du dich?«, stellte Maja die wichtigste Frage, die ihr im Augenblick auf der Seele brannte.
»Ach, eigentlich wieder ganz zufriedenstellend, meine Liebe. Danke! Wenn ich denke, wie es noch vor gut zwei Wochen um mich bestellt war, geht es mir sogar überraschend gut. Das findet auch mein Hausarzt, Doktor Kremer, den du ja auch von früher her kennst! Anfangs hätte er es allerdings lieber gesehen, wenn ich noch ein wenig im Krankenhaus geblieben wäre!«
An der etwas schleppenden Sprechweise Claudias war noch zu erkennen, was hinter ihr lag, nämlich ein Gehirnschlag, der unter anderem das Sprachzentrum im Kopf betroffen hatte – aber Maja war dennoch beeindruckt und erstaunt, wie verhältnismäßig flüssig ihre Tante die Sätze formuliert hatte.
»Mein Gott! Was bin ich froh und erleichtert, Tantchen!« Maja strahlte. »Was Jens mir mitgeteilt hat, war demnach mordsmäßig übertrieben!« Ihre Miene trübte sich leicht ein.
Einerseits war die junge Lehrerin überglücklich, dass Claudia offenbar auf dem besten Weg war, sich wieder gänzlich zu erholen; aber über das Verhalten ihres Cousins war sie dennoch ziemlich verärgert. Wenn der Bursche doch nur bei der Wahrheit geblieben wäre und nicht so dick aufgetragen hätte!
Aber bei ihm hatte es sich angehört, als ginge es seiner Mutter dermaßen schlecht, dass man sie keinen Augenblick aus den Augen lassen dürfe. Ja, er hatte irgendwie anklingen lassen, man müsse sogar mit dem Schlimmsten rechnen!
Spontan beschloss Maja, ihrer Tante nichts davon zu erzählen – die Ärmste würde sich entsetzliche Vorwürfe wegen ihres verpatzten Urlaubs machen. Aber sie nahm sich vor, mit Jens ein ernsthaftes Wörtchen zu sprechen, sobald sie ihn wiedersah. Wohl aus gutem Grund hatte der Student das Weite gesucht, ehe seine Cousine tatsächlich aufgetaucht war.
Mit großen Augen beobachtete Maja, wie relativ gelenkig ihre Tante sich jetzt allein und ohne ihre Hilfe aus dem Bett erhob.
»Doktor Kremer hat mir jeden Nachmittag zwei Stunden strikte Bettruhe verordnet«, erklärte Claudia. »So richtig mit Ausziehen, Vorhänge zu, Hinlegen und Schlafen!
Entschuldige, ich gehe nur geschwind ins Bad, werde mich jedoch beeilen; dann können wir, wenn du Lust hast, ein bisschen spazieren gehen, ja? Der Arzt hat auch gemeint, dass ich mich viel bewegen soll, um die Muskeln zu stärken.«
»Natürlich, gerne!«
Maja kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. So sehr es sie erleichterte, dass ihre Befürchtungen über den Zustand ihrer Tante offenbar jeder Grundlage entbehrten, wuchs doch andererseits ihr Groll gegen Jens noch weiter an.
»Was hat der Kerl sich denn eigentlich dabei gedacht?«, fragte sie sich im Stillen. ‚Warum um alles in der Welt hat er mich in Österreich angerufen und mir und Bernd den Bergurlaub versaut? Andererseits hat er mir kein Sterbenswort mitgeteilt, als die schlimme Sache mit Claudia akut passiert war. Wie passt das nur zusammen?«
Claudia Ritter hatte die Tür zum Badezimmer nicht ganz zugemacht und Maja konnte sich mit ihr unterhalten, während sie sich frisch machte, anzog und ausgehfertig herrichtete. Wie immer benutzte ihre Verwandte etwas Puder auf der Nase und einen Hauch von zart rosé-apricotfarbenem Lippenstift.
»Falls du etwas brauchst, genier’ dich nicht, mich zu rufen! Dafür bin ich schließlich da!«, hatte Maja ein paarmal angeboten, aber Claudia musste von der freundlichen Offerte keinen Gebrauch machen.
»Danke vielmals, meine Liebe, aber ich komme gut allein zurecht!«, hatte sie etliche Male betont.
Bald kam Majas Tante wieder zum Vorschein; in Jeans und T-Shirt sah sie trotz Anfang fünfzig jung und sportlich aus. Bis auf ein ganz leichtes Hinken, das dem Schlaganfall zu verdanken war, war ihr keinerlei Beeinträchtigung anzumerken. Jeder Außenstehende würde es für eine besonders lässige Gangart halten …
Claudia entging Majas Blick auf ihre Beine trotzdem nicht und sie meinte unbekümmert: »Denk’ dir nichts, mein Schatz! Der Doktor sagt, dass ich derzeit das linke Bein ein klein wenig nachziehe, gibt sich im Laufe der Zeit wieder.
Aber sag mal, wieso hast du eigentlich Bundhosen und diese karierte Bluse an? Möchtest du etwa ins Gebirge gehen? Mit mir?«
Die ältere Frau, im Glauben, einen Witz gemacht zu haben, lachte – nicht ahnend, wie unbeabsichtigt nahe sie damit der Wahrheit gekommen war.
Maja, die weder einen Koffer, noch eine normale Reisetasche bei sich hatte, sondern nur ihren prall gefüllten Rucksack, sah ein, dass es in diesem Fall dumm von ihr wäre, die Tante anzuschwindeln.
»Wenn du mich so fragst, Tantchen dann …!«
Maja erzählte Claudia also, wie das so gewesen war mit Jens’ Hilferuf in Kufstein