Amme in mährischer Tracht, um 1905
Das Abgeben des Kindes im Säuglingsalter führte natürlich zwangsläufig zu einer Distanz des Kindes zur leiblichen Mutter und zu einer engen sozialen Bindung an die Amme, die oft ein Leben lang hielt. Die absolute Vertrauensstellung der Amme in William Shakespeares »Romeo und Julia«, die Julia in ihrer Liebestragödie zur Seite steht, ist nur eines von vielen literarischen Beispielen, die dieses Thema aufgreifen. Die Amme fühlte sich für das Fortkommen ihres Stillkindes verantwortlich wie eine leibliche Mutter:
… Gott behüte dich! Du warst das feinste Püppchen, das ich säugte. Erleb’ ich deine Hochzeit noch einmal, So wünsch’ ich weiter nichts.41
Wie wichtig die Stellung der Amme als liebevolle Bezugsperson weit über die Phase des Stillens hinaus war, erfahren wir auch aus den Kindheitserinnerungen der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach:
Hatte eine erziehliche Maßregel unserer Schicksalsgöttin sehr hart getroffen, dann ging man zu Anischa, meiner ehemaligen Amme, und weinte sich bei ihr aus. Sie war der lichte Stern unserer Kinderstube und immer freundlich und gut. Auch bildhübsch war sie und lieblich anzusehen in ihrer heiteren hannakischen Tracht. Sie verwandte viel Sorgfalt auf ihr Äußeres, sie schlang das bunte Tuch mit den langen Fransen kunstvoll um ihren Kopf, trug immer nur schimmernd weiße Halskrausen, seidene, mit Füttern benähte Leibchen und tadellos gesteifte und geplättete Röcke.42
Die liebevolle, stets adrett zurecht gemachte Anischa war nicht nur liebevolle Trösterin, sondern auch eine Meisterin im Geschichten erzählen:
O welch ein Erzählertalent war unsere Anischa! Wie verstand sie zu schildern, zu spannen, ihre Phantasiegebilde klar und lebendig hinzustellen, sie aufsteigen, vorüberschweben, entschwinden zu lassen! Jammervoll nüchtern erscheint mir die Kinderstube, aus der die Märchenerzählerin »grundsätzlich« verbannt ist. Wir haben das Glück genossen, uns nach Herzenslust in einer Wunderwelt ergehen zu dürfen, sowohl als kleine wie später als größere Kinder.43
Ihre Schilderung wirft aber auch ein deutliches Licht auf die soziale Situation Anischas als uneheliche Mutter, die ihr eigenes Kind in Kost geben musste, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können:
… alljährlich im Herbste (erschien) eine ältliche Frau, die wir, dem Beispiel Anischas folgend, »pani kmotrenka« nannten, in Zdißlawitz. Ein derber Junge in schmucker hannakischer Tracht begleitete sie. Er stand im selben Alter wie ich, und Pepi sagte, daß er eine Art Bruder von mir sei. So erwiesen wir ihm denn alle geschwisterlichen Ehren, fütterten ihn, beschenkten ihn, luden ihn ein, an unseren Spielen teilzunehmen. Er aß, was man ihm auftischte, er nahm, was man ihm anbot, aber er dankte nicht, er lächelte nicht; er verhielt sich uns gegenüber trotzig wie ein Bock.44
Bonne, Kinderfrau, Gouvernante
Das Erziehungspersonal
War das Kind dem Kleinkindalter entwachsen, wurde zunächst eine Bonne oder Kinderfrau und später eine Gouvernante eingestellt. Sie sollten die Kinder beaufsichtigen und beschäftigen und dabei die französische Sprache vermitteln. Sie waren daher bevorzugter Weise Französinnen oder französischsprachige Schweizerinnen:
Der Nutzen der Bonnen für sehr kleine Kinder, denen sie das französisch Sprechen leicht lehren, ist indessen in dieser Hinsicht keineswegs zu verkennen, nur sollte mit dem 9. Jahre spätestens allemal eine deutsche Gouvernante an ihre Stelle treten. Viele von diesen ertheilen den gewöhnlichen Normalunterricht, was besonders auf dem Lande, in Häusern, wo keine Söhne sind, den Hauslehrer entbehrlich macht. Musik- und Gesangunterricht fehlt bei den Gebildetsten eben so wenig …45
Die Gouvernante sollte ein hübsches, gepflegtes Äußeres besitzen, aber keinesfalls in ihrer Aufmachung mit der Dame des Hauses in Konkurrenz treten:
Es gibt eine einfache Eleganz, die alles Auffallende, unpassende Bewegungen, schreiende Farben in der Kleidung u. s. f. verwirft … diese (Gabe) gerade ist es, welche die Französinnen fast immer, die Deutschen so selten besitzen …
Sie musste aber auch über bestimmte Fähigkeiten verfügen, die aber wiederum keinesfalls bestimmte Grenzen übersteigen durften:
Solide Kenntnisse der Geschichte, Geographie, Naturgeschichte, Frauenarbeiten u.s.w. werden bei einer Gouvernante vorausgesetzt, das schöne und so unendlich nützliche Talent des Zeichnens und Malens von Blumen und Landschaften (Köpfe-Studien nützen weniger und führen Frauen fast niemals zu etwas Tüchtigem) sollte sie immer begleiten; denn es ist vorzugsweise dieses, was so viel kleine, das Leben erheiternde Gefälligkeiten möglich macht, es bringt Freude wie Freunde, da hingegen Virtuosität auf irgend einem Instrument, eine übrigens köstliche Mitgabe, nur mit Umsicht von einer Lehrerin geübt werden darf, da sie ihr leicht Neider anstatt Bewunderer zuzieht, wenn sie im Salon vor ihren Schülerinnen damit glänzen wollte.46
Das Hinzuziehen von Bonne und Gouvernante entband die Mutter aber zumindest theoretisch nicht gänzlich von der Erziehungsarbeit:
Das Kind, das schon unter der Führung der Bonne steht und mit dieser einige Mahlzeiten einnimmt, von ihr ausgeführt wird usw., sollte ihr dennoch nicht ganz überlassen bleiben. Und da Kinder am ungezwungensten in ihrem eigenen Reich sind, sollte die Mutter täglich ein oder zwei Stunden im Kinderzimmer verbringen. Dadurch wird das Kind ihrer Obhut nicht entwachsen, sich ihr nicht entfremden und sie wird sich neu entwickelnde Fehler rechtzeitig entdecken und dämpfen können.47
Für die Gouvernante war ihre Stellung innerhalb des Haushaltes heikel und zwiespältig. Stand sie einerseits in einem größeren Naheverhältnis zu den Dienstherren als das übrige Personal – sie speiste bei Tisch mit der Familie und war auch bei Ausflügen und anderen familiären Unternehmungen dabei – so blieb doch andererseits ein deutlicher Respektabstand zur Familie bestehen, der sie eindeutig als Angestellte auswies. Daran änderte auch die oft innige Beziehung der Gouvernante zu den Kindern nichts. Diese schwierige und unnatürliche Situation, in der sich die Gouvernante ihrem anvertrauten Zögling gegenüber befand, schildert Arthur Schnitzler in seinem Roman »Therese. Chronik eines Frauenlebens«.
Therese, Mutter eines unehelichen Kindes, ist gezwungen, ihren Lebensunterhalt als Gouvernante zu bestreiten. Das eigene Kind, das bei Kosteltern auf dem Lande lebt, besucht sie nur ab und zu. Therese wechselt häufig ihre Stelle, teils auf eigenen Wunsch, wenn die Bedingungen nicht angemessen waren, teils auf Wunsch der Dienstherrschaft:
Sie kam nun in ein ruhiges, behagliches Haus, in dem sie hoffte lange bleiben zu dürfen: zu einem Fabrikanten, der tätig und seiner Tätigkeit froh zu sein schien, einer liebenswürdigen und heiteren Frau und zwei Mädchen, die eben der Kindheit zu entwachsen begannen, klugen, wohlerzogenen,