In jedem Falle seien die Gebote und Verbote, sowie deren Begründung möglichst kurz und bestimmt, damit das Kind zwar genau erfahre, was es zu thun und zu lassen habe, nicht aber durch überflüssiges Reden gelangweilt, oder zum Mißtrauen gegen den Erzieher, zum Widersprechen und Disputiren gereizt werde. Das unreife Kind darf sich seinem Erzieher in keiner Weise gleichstellen, oder demselben wohl gar Rechenschaft abfordern; hierdurch würde ja das ganze pädagogische Verhältniß gestört werden. Nur stehe der Erzieher auch wirklich höher als sein Zögling, nicht blos physisch und geistig, sondern vor Allem auch moralisch.7
Dittes mildert hier das Prinzip des unbedingten Gehorsams etwas ab und fordert eine Vorbildfunktion des Erziehers ein. Rund dreißig Jahre zuvor sah man die Sache rigoroser, der Wille des Erziehers war Gesetz und in keiner Weise zu hinterfragen:
Der Erzieher, welcher seine Befehle mit Gründen begleitet, räumt zugleich Gegengründen Berechtigung ein, und damit wird das Verhältnis zum Zögling verschoben. Dieser betritt das Feld der Unterhandlungen und stellt sich dem Erzieher gleich; mit solcher Gleichheit verträgt sich aber keineswegs die Ehrfurcht, ohne welche keine Erziehung gedeihen kann.8
Stefan Zweig beschrieb in seinen Lebenserinnerungen, dass diese Erziehungstheorie gelebte Praxis war:
Wir sollten vor allem erzogen werden, überall das Bestehende als das Vollkommene zu respektieren, die Meinung des Lehrers als unfehlbar, das Wort des Vaters als unwidersprechlich, die Einrichtungen des Staates als die absolut und in alle Ewigkeit gültigen. Ein zweiter kardinaler Grundsatz jener Pädagogik, den man auch innerhalb der Familie handhabte, ging dahin, daß junge Leute es nicht zu bequem haben sollten. Ehe man ihnen irgendwelche Rechte zubilligte, sollten sie lernen, daß sie Pflichten hatten und vor allem die Pflicht vollkommener Fügsamkeit. Von Anfang an sollte uns eingeprägt werden, daß wir, die wir im Leben noch nichts geleistet hatten und keinerlei Erfahrung besaßen, einzig dankbar zu sein hatten für alles, was man uns gewährte, und keinen Anspruch, etwas zu fragen oder zu fordern. Von frühester Kindheit an wurde in meiner Zeit diese stupide Methode der Einschüchterung geübt. Dienstmädchen und dumme Mütter erschreckten schon dreijährige und vierjährige Kinder, sie würden den »Polizeimann« holen, wenn sie nicht sofort aufhörten, schlimm zu sein … An allen Stellen übte man diese Technik, im Hause, in der Schule und im Staate. Man wurde nicht müde, dem jungen Menschen einzuschärfen, daß er noch nicht »reif« sei, daß er nichts verstünde, daß er einzig gläubig zuzuhören habe, nie aber selbst mitsprechen oder gar widersprechen dürfe.9
Dass diese trotz idealistischer Ambitionen in der Umsetzung immer noch restriktive Erziehung, die bereits den kleinen Kindern ein Übermaß an Selbstkontrolle und Disziplin abforderte, das Kind-Sein unterband, sahen nur wenige:
Es gehört zu den Privilegien der privilegierten Klassen, daß sie mit Recht sagen dürfen: es giebt keine Kinder mehr. Daß es aber dort keine Kinder mehr giebt, liegt nicht daran, daß der Zug der raschlebigen Zeit die Kleinen daran hinderte sich in Glück und Harmlosigkeit auszuleben, sondern daran, daß man die Kinder der sogenannten besseren Gesellschaftsklassen systematisch ihrer Kindlichkeit, ihrer Unbefangenheit beraubt. In Sammtkleidchen, Glacéhandschuhen und gelben Stiefelchen wandeln die kleinen, bleichwangigen Greise ehrsam durch die Anlagen und Promenaden der Städte und wissen nicht, daß sie betrüblich unangenehm sein müssen, weil sie nicht natürlich artig oder auch unartig sein dürfen.10
Wer waren nun die Erzieher, an die sich die hohen erzieherischen Ansprüche richteten und wie setzten sie diese um?
Die Eltern, beschäftigt mit Beruf und Repräsentation, übernahmen nur einen geringen Teil der tatsächlichen Kinderbetreuung:
Bei aller Zärtlichkeit, deren wir uns von den Eltern zu erfreuen hatten, bei aller Sorgfalt, die auf unseren Unterricht – mehr auf diesen als auf unsere Erziehung im weiteren Sinn – verwendet wurde, war mein Vater nach Anlage, Beruf und Streben, welch letzteres bei all seiner unermüdlichen ärztlichen, wissenschaftlichen und journalistischen Betätigung sehr stark auf sichtbaren Erfolg und äußere Ehren, keineswegs auf Gelderwerb gerichtet war, doch so sehr von sich selbst erfüllt, ja auf sich angewiesen, und die Mutter in all ihrer hausfraulichen Tüchtigkeit und Übergeschäftigkeit hatte sich seiner Art und seinen Interessen so völlig und bis zur Selbstentäußerung angepaßt, daß sie beide an der inneren Entwicklung ihrer Kinder viel weniger Anteil zu nehmen vermochten und dieser Entwicklung vor allem viel weniger echtes und befruchtendes Verständnis entgegenbrachten, als sie sich jemals einzugestehen auch nur fähig gewesen wären.11
Arthur Schnitzler beschrieb hier ein Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, das wohl in vielen bürgerlichen Familien Realität war. Tatsächlich übernahmen in der gehobenen Mittelschicht der Gesellschaft mehrere Personen die Erziehung der Kinder. Neben den Eltern waren Ammen, Kindermädchen und Gouvernanten, manchmal auch das Dienstpersonal erzieherische Bezugspersonen der Kinder. Eine Konstellation, die nicht immer reibungslos ablaufen konnte, war doch die Aufteilung der Pflichten, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Mutter, Vater und Personal nicht immer klar festgelegt.
Arthur Schnitzler (Mitte) und seine Geschwister Julius und Gisela, um 1870
»Der edelsten Bestrebung geweiht«
Die Mutter
Theoretisch hatten zunächst die Mütter die Verantwortung für die Erziehung der Kinder. Mütter, die zum Zeitpunkt ihrer Verheiratung selbst kaum der Kinderstube entwachsen waren, deren eigene Erziehung darauf abgezielt hatte, sie möglichst unwissend und gehorsam zu halten, um sie unschuldig und rein einem von den Eltern für sie ausgewählten Ehemann zu übergeben. Die höheren Töchter wurden daher auf ihren einzigen Lebenszweck, ihr Leben als Ehefrau, vorbereitet. Sie sollten ihrem Ehemann untertan sein und nicht durch Intellektualität oder übermäßiges Selbstbewusstsein unangenehm auffallen:
»Du zartes Wesen bist geboren, poetisch zu sein, zu tändeln, Toilette zu machen, Clavier zu spielen, französisch zu plaudern«, und wie die ganze Ammenweisheit unserer vornehmen Mütter und Gouvernanten heißt. Leider ist dieser Ton nicht mehr blos einheimisch in den höchsten Regionen der Gesellschaft; den größten Theil des Mittelstandes durchweht diese zimperliche Parfummoral, selbst in den vermögenderen Bürgerstand ist sie eingedrungen …12
So beschrieb die deutsche Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Luise Büchner die Situation der bürgerlichen Frauen Ende des 19. Jahrhunderts. Dass diese Frauen von ihren Ehemännern wie unmündige Kinder behandelt wurden, illustrierte Henrik Ibsen in seinem 1879 uraufgeführten Stück »Nora oder Ein Puppenheim« in aller Deutlichkeit. Den zeitgenössischen gesellschaftlichen Konventionen folgend, betrachten sowohl der Vater als auch der Ehemann Nora als einen Besitz, der ihnen zwar kostbar ist, dem sie aber kein Eigenleben zubilligen, geschweige denn Eigenverantwortung und Geschäftsfähigkeit. »Eichkätzchen«, wie Nora von ihrem Mann genannt wird, ist bei weitem kein Einzelschicksal.
Die Erziehung der bürgerlichen Mädchen war generell darauf ausgerichtet, sie von jeglichem unanständigen Gedankengut fernzuhalten, sie über alles allzu Menschliche in Unkenntnis zu lassen. Die Unterweisungen in Klavierspiel, Gesang, Handarbeiten, Sprachen, Kunst und unverfänglicher Literatur geschahen innerhalb enger Grenzen und diente vor allem der Ablenkung von eventuell aufkeimenden unzüchtigen Gedanken. Die Jungfräulichkeit, das höchste Gut des bürgerlichen Mädchens, galt es mit allen Mitteln zu verteidigen und zu schützen. Ihr Verlust bedeutete auf dem Heiratsmarkt, nicht mehr vermittelbar zu sein – die ultimative Katastrophe für eine Frau, die einzig für die Rolle als Ehefrau und Mutter vorgesehen war. Um dieses Horrorszenario abzuwenden, entwickelte man eine Schamhaftigkeit und Prüderie allem Körperlichen gegenüber und ließ damit die jungen Mädchen über ihre natürlichen Körperfunktionen in vollkommener Ahnungslosigkeit. Welche Qualen dies für ein heranwachsendes Mädchen bedeutete, schilderte die Künstlerin Käthe Kollwitz in ihren Lebenserinnerungen:
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