Herr Verloc trat langsam über die zwei Stufen in die Küche hinunter, nahm ein Glas von der Anrichte und näherte sich damit dem Wasserhahn, ohne nach seiner Frau zu sehen.
»Der alte Baron hätte sicher nicht die verdammte Dummheit begangen, mich um elf Uhr vormittags zu sich zu bestellen. Es gibt zwei oder drei Leute in dieser Stadt, die mir, hätten sie mich hineingehen sehen, ohne jedes Federlesen früher oder später den Kopf eingeschlagen hätten. Es war ein dummer, gefährlicher Streich, für nichts und wieder nichts einen Mann aufs Spiel zu setzen, – einen Mann wie mich!«
Herr Verloc hatte den Hahn aufgedreht und stürzte nun drei Gläser Wasser hinunter, um das Feuer seiner Entrüstung zu löschen. Herrn Vladimirs Verhalten hatte eine verzehrende Glut in ihm entfacht. Er konnte über die Rücksichtslosigkeit darin nicht wegkommen. Dieser Mann, nicht geschaffen für die hart arbeitenden Berufe, die die Gesellschaft ihren niedrig geborenen Mitgliedern vorbehält, hatte seinem geheimen Erwerb mit unermüdlicher Hingabe obgelegen. Herr Verloc war pflichtgetreu. Er war seinen Arbeitgebern treu gewesen, treu der Sache der gesellschaftlichen Ordnung – treu auch seinen Gefühlen, wie sich nun zeigte, da er das Glas zurücksetzte und sich mit den Worten umwandte:
»Hätte ich nicht an dich gedacht, dann hätte ich das höhnische Biest bei der Gurgel gepackt und mit dem Kopf ins Feuerloch gestoßen. Ich wäre ihm leicht Herr geworden, dem rotgesichtigen, glattrasierten –«
Herr Verloc unterließ es, den Satz zu beenden, als könnte es keinen Zweifel über das Schlußwort geben. Zum erstenmal in seinem Leben zog er diese nicht neugierige Frau in sein Vertrauen. Die Besonderheit des Ereignisses, die Stärke und Bedeutung seiner persönlichen Gefühle, die durch die Beichte ausgelöst wurden, drängten Stevies Schicksal glatt aus seinem Bewußtsein. Das zwischen Angst und Empörung pendelnde Dasein des Jungen war zugleich mit seinem gewaltsamen Ende vorläufig aus Herrn Verlocs Gesichtskreis entschwunden. Darum fühlte er sich, als er aufsah, überrascht von dem unerwarteten Ausdruck im Blick seiner Frau. Der Blick war nicht wild und auch nicht unaufmerksam, doch war seine Aufmerksamkeit sonderbar und unerfreulich, da sie auf irgendeinen Punkt hinter Herrn Verlocs Person gesammelt schien. Der Eindruck war so stark, daß Herr Verloc über die Schulter zurücksah. Es war nichts hinter ihm: nur die weißgetünchte Wand. Der ausgezeichnete Gatte von Winnie Verloc sah keine Schrift auf dieser Wand. Er wandte sich abermals zu seiner Frau und wiederholte nicht ohne Schwung:
»Ich hätte ihn bei der Gurgel genommen. So wahr ich hier stehe, hätte ich nicht an dich gedacht, so hätte ich aus dem Viehkerl das Leben halb herausgewürgt, bevor ich ihm erlaubt hätte, aufzustehen. Und glaube du ja nicht, daß er etwa nach der Polizei gerufen hätte. Er hätte es nicht gewagt. Du verstehst wohl warum – nicht wahr?«
Er zwinkerte seiner Frau wissend zu.
»Nein«, sagte Frau Verloc mit klangloser Stimme und ohne ihn anzusehen. »Wovon sprichst du?«
Eine große Entmutigung, das Ergebnis tiefer Ermüdung, überkam Herrn Verloc. Er hatte einen schweren Tag hinter sich, und seine Nerven waren bis zum äußersten beansprucht worden. Nach einem Monat voll erdrückender Mühsal, die mit einer unerwarteten Katastrophe geendet hatte, verlangte Herrn Verlocs sturmgepeitschtes Gemüt nach Ruhe. Seine Laufbahn als Geheimagent war auf eine Weise abgeschlossen worden, die niemand hätte voraussehen können; jetzt konnte er wenigstens hoffen, einmal eine Nacht ruhig zu schlafen. Als er seine Frau ansah, bezweifelte er das allerdings. Sie nahm es sehr schwer – gar nicht auf ihre gewohnte Art. Er machte einen Anlauf zum Reden.
»Du mußt dich unbedingt zusammennehmen, mein Mädel«, sagte er weich. »Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden.«
Frau Verloc fuhr leicht zusammen, obwohl kein Muskel ihres weißen Gesichts zuckte. Herr Verloc, der sie nicht ansah, fuhr gewichtig fort:
»Geh du jetzt nur zu Bett, du solltest dich richtig ausweinen.«
Diese Ansicht konnte sich offenbar auf einen weitverbreiteten Glauben stützen. Nach allgemeiner Auffassung muß jede weibliche Gemütserregung, als wäre sie weiter nichts als treibender Wasserdampf in der Luft, schließlich in einem Gusse enden, und es ist ja auch sehr wahrscheinlich, daß Frau Verlocs Schmerz sich in einer Flut bitterer, reiner Tränen Luft gemacht hätte, wäre Stevie in seinem Bett gestorben, unter ihren Augen, in ihren schützenden Armen. Frau Verloc war so gut wie andere menschliche Wesen einer unbewußten Ergebung fähig, stark genug, um dem gesetzmäßigen Ablauf eines Menschenschicksals zu begegnen. Ohne sich »den Kopf schwer zu machen«, begriff sie doch, daß man »dem nicht auf den Grund gehen dürfe«. Die jämmerlichen Begleitumstände von Stevies Tod aber, die für Herrn Verloc als Teil eines größeren Unglücks nur nebensächliche Bedeutung hatten, hemmten die Tränen seiner Frau schon an der Quelle. Es war, als hätte man ihr ein weißglühendes Eisen durch die Augen gezogen. Zugleich ließ ihr Herz, zu einem Eisklumpen erstarrt, ihren Leib innerlich erschauern und verlieh ihren Zügen die starre Unbeweglichkeit, mit der sie nun eine weißgetünchte, doch unbeschriebene Wand ansah. Frau Verlocs Temperament, das, sobald ihm die philosophische Hemmung genommen wurde, mütterlich und leidenschaftlich war, zwang sie, in ihrem Kopf eine Gedankenreihe abzuwickeln. Diese Gedankenreihe war allerdings mehr bildhaft als klar geformt. Frau Verloc war eine Frau von außergewöhnlich wenig Worten, sowohl gegen andere wie gegen sich selbst. Mit der Wut und dem Schmerz einer betrogenen Frau überdachte sie nochmals ihr bisheriges Leben und erging sich dabei zumeist in Vorstellungen von Stevies kümmerlichem Dasein von seiner ersten Jugend an. Ihr Leben stand edel geschlossen unter dem Antrieb eines einzigen Gefühls, wie eines der seltenen anderen, die den Gedanken und Gefühlen der Menschheit ihren Stempel aufgedrückt haben. Frau Verlocs Vorstellungen aber entbehrten des Edelmuts und der Großartigkeit. Sie sah sich selbst, wie sie beim Schein einer einzelnen Kerze den Jungen zu Bett brachte, im öden Dachgeschoß eines »Geschäftshauses«, das zu ebener Erde in einem Überfluß von Licht und Spiegelglas wie ein Feenpalast glänzte und unter dem Dach im Dunklen lag. Der trügerische Glanz des Erdgeschosses war der einzige Lichtblick in Frau Verlocs Erinnerungen. Sie erinnerte sich, wie sie dem Jungen das Haar gebürstet und den Latz umgebunden hatte – während sie selbst noch einen Latz trug; an die Tröstungen, die einem kleinen, bös verängstigten Wesen von einem anderen Wesen dargeboten wurden, das fast ebenso klein, aber nicht ganz so verängstigt war; sie gedachte der aufgefangenen Schläge (oft mit dem eigenen Kopfe aufgefangen), gedachte der Türen, die sie verzweifelt vor eines Mannes Wut zugehalten hatte (nicht recht lange); des Schürhakens, den sie einst (nicht sehr weit) geworfen, und der den Jähzorn zu der dumpfen Ruhe gebracht hatte, die einem Donnerschlag zu folgen pflegt. Alle diese Bilder voll Gewaltsamkeit zogen an ihrem Geist vorüber, begleitet von den undeutlichen, tiefen Ausrufen eines Mannes, der in seinem Vaterstolz tief verletzt war und sich selbst für verflucht erklärte, da eines seiner Kinder »ein sabbernder Trottel und das andere eine verdammte Hexe« war. Dies letztere war von ihr gesagt worden, vor vielen Jahren.
Frau Verloc hörte die Worte nochmals geisterhaft an ihr Ohr wehen, und dann senkte sich der traurige Schatten der Belgravia-Pension auf sie nieder. Es war eine erdrückende Erinnerung, die quälende Vorstellung von zahllosen Frühstücksbrettern, die sie über zahllose Stufen hinauf und hinunter getragen hatte, von endloser Pfennigdrückerei, von endloser Mühsal des Putzens, Staubens, Reinemachens, vom Keller bis zum Dach; während die kranke Mutter, auf ihren geschwollenen Beinen humpelnd, in der rußigen Küche wirtschaftete und der arme Stevie, der unbewußte Urheber all dieser Mühen, in der Abwaschküche die Schuhe der Zimmerherren putzte. Doch fehlte dieser Vorstellung nicht der Hauch eines heißen Londoner Sommers, und als Mittelpunkt ein junger Mann im Sonntagsgewand, mit einem Strohhut auf dem dunklen Haar und einer Holzpfeife im Munde. Zärtlich und lustig, schien er ein anziehender Genosse für die Fahrt auf dem glitzernden Strom des Lebens; nur sein Boot war zu klein. Darin war Platz für eine Gefährtin am Steuer, doch nicht für Fahrgäste. Den ließ man vom Steg der Belgravia-Pension wegtreiben, während Winnie ihre tränenvollen Augen abwandte. Er war kein Zimmerherr. Zimmerherr war Herr Verloc, der Bequemlichkeit, späte Stunden und, des Morgens, unter den Bettüchern hervor,