»Nun, nun«, murmelte Herr Verloc erstaunt. Was hatte sie damit gewollt? Ihm selbst die Mühe ersparen, den Jungen ängstlich zu beobachten? Höchstwahrscheinlich hatte sie das Beste gewollt. Nur hätte sie ihm von der ergriffenen Vorsichtsmaßregel Mitteilung machen müssen.
Herr Verloc trat hinter den Ladentisch. Er hatte nicht die Absicht, seine Gattin mit erbitterten Vorwürfen zu überhäufen. Herr Verloc empfand keine Bitterkeit. Der unerwartete Gang der Ereignisse hatte ihn zum Fatalismus bekehrt. Nun war nichts mehr zu ändern. Er sagte:
»Ich dachte nicht, daß dem Jungen irgendein Leid widerfahren sollte.«
Frau Verloc schauderte beim Klang von ihres Gatten Stimme. Sie enthüllte ihr Gesicht nicht. Der vielgepriesene Geheimagent des seligen Barons Stott-Wartenheim blickte sie eine Zeitlang düster beharrlich aus kurzsichtigen Augen an. Das zerrissene Abendblatt lag zu ihren Füßen. Sie konnte nicht viel daraus erfahren haben. Herr Verloc empfand die Notwendigkeit, mit seiner Gattin zu sprechen.
»Der verdammte Heat – wie?« sagte er. »Er hat dich erschreckt. Er ist ein Rüpel. Eine Frau so damit zu überfallen! Ich marterte mich halb von Sinnen mit der Frage, wie ich dir’s beibringen sollte. Stundenlang saß ich in dem kleinen Schenkzimmer von Cheshire Cheese und grübelte über den besten Weg. Du kannst dir denken, daß ich niemals daran dachte, dem Jungen ein Leid geschehen zu lassen.«
Herr Verloc, der Geheimagent, sprach wahr. Die vorzeitige Explosion hatte ihn in seiner Gattenliebe am schmerzlichsten getroffen. Er fügte hinzu:
»Mir war nicht besonders wohl zumute, als ich dort saß und an dich dachte.«
Er bemerkte ein neues Zusammenschaudern seiner Gattin und fühlte sich schmerzlich davon berührt. Da sie dabei beharrte, das Gesicht in den Händen verborgen zu halten, glaubte er, sie besser eine Weile allein lassen zu sollen. Aus diesem feinfühligen Antrieb zog sich Herr Verloc wieder ins Wohnzimmer zurück, wo der Gasbrenner wie eine zufriedene Katze schnurrte. Frau Verloc hatte in weiblichem Vorbedacht den kalten Rindsbraten auf dem Tisch gelassen, mit Vorlegemesser und -gabel und einem halben Brotlaib, als Herrn Verlocs Nachtmahl. Er bemerkte diese Dinge nun zum erstenmal, schnitt sich eine Scheibe Brot und Fleisch herunter und begann zu essen.
Seine Eßlust kam nicht aus Gefühllosigkeit. Herr Verloc hatte an diesem Tage nicht gefrühstückt. Er hatte sein Heim nüchtern verlassen. Da er kein Mann von Energie war, so bezog er seine Entschlußkraft immer aus nervöser Überreizung, die ihn sozusagen an der Kehle hielt. Er wäre außerstande gewesen, feste Nahrung zu schlucken. Michaelis’ Landhaus war so aller Vorräte bar, wie eine Gefängniszelle. Der Bewährungsfristapostel lebte von ein wenig Milch und alten Brotkrusten. Überdies war er bei Herrn Verlocs Ankunft nach seinem kärglichen Mahl schon hinaufgegangen gewesen. Hingegeben der wonnigen Plage dichterischen Schaffens, hatte er nicht einmal auf Herrn Verlocs Anruf geantwortet.
»Ich nehme den Jungen auf ein, zwei Tage nach Hause.«
Tatsächlich hatte Herr Verloc gar keine Antwort abgewartet und das Landhaus, von dem gehorsamen Stevie gefolgt, sofort verlassen.
Nun, als die Tat getan und sein Schicksal unerwartet schnell ihm aus der Hand genommen war, empfand Herr Verloc eine erschreckende körperliche Leere. Er schnitt an dem Fleisch und dem Brot herum, verschlang, am Tische stehend, sein Abendessen und warf dann und wann einen Blick auf seine Frau. Ihre beharrliche Unbeweglichkeit störte ihm die Freude des Mahls. Wieder ging er in den Laden und trat nahe zu ihr hin. Dieser Kummer mit verhülltem Gesicht war Herrn Verloc unheimlich. Natürlich hatte er gewußt, daß es seine Frau schwer treffen würde, doch wünschte er, daß sie sich zusammennehmen sollte. Er bedurfte ihrer vollen Hilfe und Treue angesichts dieser neuen Sachlage, mit der sein Fatalismus sich schon abgefunden hatte.
»Nicht zu ändern«, sagte er in dumpfer Anteilnahme. »Komm, Winnie, wir müssen an morgen denken. Du wirst deinen ganzen Witz nötig haben, wenn ich einmal weggeführt werde.«
Er hielt inne. Frau Verlocs Brust hob sich krampfhaft. Das beruhigte Herrn Verloc nicht, nach dessen Meinung die neugeschaffene Sachlage von den zwei Hauptbeteiligten Ruhe, Entschlossenheit und andere Eigenschaften verlangte, die mit der seelischen Zerrüttung leidenschaftlichen Schmerzes unvereinbar waren. Herr Verloc war kein Unmensch; er war mit dem Vorsatz heimgekehrt, der Schwesternliebe seiner Frau erhebliche Zugeständnisse zu machen. Nur verstand er wohl die wahre Natur oder die ganze Tragweite dieses Gefühls nicht. Und das war entschuldbar, denn er konnte beides nicht verstehen, ohne aufzuhören, er selbst zu sein. Nun war er peinlich überrascht, was sich in einer gewissen Rauheit des Tones kundgab.
»Du könntest einen doch ansehen«, sagte er nach einer Weile.
Als würde sie durch die Hände gepreßt, die Frau Verlocs Antlitz bedeckten, kam die Antwort, erstickt, fast kläglich:
»Ich will dich nicht mehr ansehen, so lange ich lebe.«
»Was? Wie?« Herrn Verloc war nur der oberflächliche, wörtliche Sinn dieses Ausspruchs unangenehm zum Bewußtsein gekommen. Das war ganz offenbar unvernünftig, ein Aufschreien überspannten Schmerzes. Er warf den Mantel ehelicher Nachsicht darüber. Herrn Verlocs Gemütsart fehlte die Gründlichkeit. Infolge des falschen Glaubens, daß der Wert eines Menschen in ihm selbst beruhen müsse, konnte er unmöglich ermessen, wie viel Stevie tatsächlich in Frau Verlocs Augen wert war. Sie nahm es verteufelt hart, dachte er sich. Und daran war nur der verdammte Heat schuld. Warum hatte er die Frau so aufgeregt? Man durfte sie aber zu ihrem eigenen Besten nicht länger so gewähren lassen, bis sie schließlich ganz von Sinnen kam.
»Sieh doch! Du kannst doch nicht so im Laden sitzen bleiben«, sagte er mit gemachter Strenge, in der auch echter Ärger mitklang; denn wenn sie schon die ganze Nacht aufbleiben sollten, dann mußten doch dringende Fragen durchgesprochen