Der Kommissar machte diese Feststellungen in entschuldigendem Ton. Tatsächlich aber hat gerade die bildhafte Sprache ihre eigene Deutlichkeit, und der große Mann war nicht erzürnt. Ein leichtes Zucken des großen Körpers, der sich in dem grünen Dämmer fast verlor, des mächtigen Hauptes, das sich auf die große Hand lehnte, wurde von einem unterdrückten, doch immer noch kraftvollen Geräusch begleitet. Der große Mann hatte gelacht.
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«
Der Kommissar gab schnell zurück:
»Da er es sehr dringlich zu haben schien, zu seiner Frau in den Laden zurückzukommen, so ließ ich ihn gehen, Sir Ethelred.«
»Taten Sie das? Aber der Bursche wird sich ja dünn machen!«
»Verzeihung, das glaube ich nicht. Wohin sollte er gehen? Dann bitte ich Sie auch zu bedenken, daß er ja auch die Gefahr von Seiten seiner eigenen Genossen im Auge behalten muß. Er ist hier auf Posten. Wie könnte er es erklären, wenn er ihn verließe? Doch selbst, wenn seine Handlungsfreiheit nicht gehemmt wäre, würde er nichts unternehmen. Im Augenblick hat er nicht genügend Entschlußkraft, um sich zu irgend etwas aufzuraffen. Gestatten Sie mir, auch noch hervorzuheben, daß wir durch seine Festnahme in eine Handlungsweise hineingedrängt worden wären, über die ich zuvor doch Ihre genaue Meinung einholen wollte.«
Der große Mann erhob sich wuchtig, eine gewaltige, schattenhafte Form im grünen Dämmer des Zimmers.
»Ich muß heute noch mit dem Oberstaatsanwalt sprechen und werde morgen früh nach Ihnen schicken. Haben Sie mir jetzt noch irgend etwas zu sagen?«
Der Kommissar war ebenfalls aufgestanden, schlank und biegsam.
»Ich denke nicht, Sir Ethelred. Sonst müßte ich auf Einzelheiten eingehen, die –«
»Nein, keine Einzelheiten, bitte.«
Die große, schattenhafte Masse schien zusammenzuschrumpfen wie in körperlicher Angst vor Einzelheiten; kam dann wieder vorwärts, breitete sich aus, wuchs ins Ungeheure und bot eine riesige Hand. »Und Sie sagen, daß der Mann eine Gattin hat?«
»Jawohl, Sir Ethelred«, sagte der Kommissar und drückte ehrfurchtsvoll die ausgestreckte Hand. »Eine richtige Gattin, die ihm richtig und gesetzmäßig angetraut ist. Er gestand mir, daß er nach der Auseinandersetzung auf der Gesandtschaft alles hinter sich geworfen, den Laden verkauft und das Land verlassen hätte, hätte er nicht sicher gewußt, daß sein Weib von einer Auswanderung nicht einmal reden hören wollte. Nichts kennzeichnet die gut bürgerliche Bindung besser als dies«, fuhr der Kommissar mit einem Anflug von Grimm fort, denn auch seine eigene Gattin hatte es ja abgelehnt, von Auswanderung reden zu hören. »Ja, eine richtige Gattin. Und das Opfer war sein richtiger Schwager. Von einem gewissen Gesichtspunkt aus gesehen, bietet sich uns hier ein häusliches Drama dar.«
Der Kommissar lachte kurz; doch des großen Mannes Gedanken schienen weit weg zu sein, vielleicht bei der Innenpolitik seines Landes, dem Schlachtfeld, auf dem sich sein Kreuzzug gegen den Heiden Cheeseman abspielte. Der Kommissar zog sich ruhig zurück, unbemerkt, als wäre er schon vergessen.
Auch in ihm steckte etwas vom Kreuzfahrer. Diese Sache, die aus dem oder jenem Grunde dem Hauptinspektor so widerlich war, erschien ihm ein von der Vorsehung gegebener Ausgangspunkt für einen Kreuzzug, den er von Herzen gern beginnen wollte. Er ging langsam nach Hause, überdachte unterwegs sein Vorhaben und auch Herrn Verlocs Charakter, in einer Stimmung, die zwischen Widerwillen und Genugtuung schwankte. Er ging die ganze Strecke zu Fuß. Da er im Wohnzimmer kein Licht fand, so ging er in den Oberstock und brachte einige Zeit zwischen dem Schlaf-und Ankleidezimmer damit hin, seine Kleider zu wechseln und wie ein grübelnder Traumwandler auf und ab zu gehen. Doch nahm er sich fest in die Hand, bevor er wieder ausging, um mit seiner Frau im Hause von Michaelis’ großer Gönnerin zusammenzutreffen.
Er wußte, daß er dort willkommen sein würde. Als er das kleinere der beiden Wohnzimmer betrat, gewahrte er seine Frau in einer kleinen Gruppe nächst dem Piano. Ein junger Komponist, der auf der Schwelle der Berühmtheit stand, unterhielt sich vom Klaviersessel aus mit zwei dicken Männern, deren Rücken alt, und mit drei schlanken Frauen, deren Rücken jung aussahen. Hinter dem Wandschirm hatte die große Dame nur zwei Leute bei sich: einen Mann und eine Frau, die nebeneinander in Armstühlen zu Füßen des Ruhebetts saßen. Sie streckte dem Kommissar die Hand entgegen.
»Ich hätte nie gehofft, Sie heute abend hier zu sehen. Annie sagte mir –«
»Jawohl. Ich hatte selbst keine Ahnung, daß meine Arbeit so schnell beendet sein würde.«
Der Kommissar fügte halblaut hinzu: »Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß Michaelis mit der Sache gar nichts zu tun hat –«
Die Schirmherrin des entlassenen Sträflings nahm diese Zusicherung mit Entrüstung auf.
»Warum? Wart Ihr denn dumm genug, ihn damit in Verbindung zu bringen? –«
»Nicht dumm,« unterbrach der Kommissar in ehrehrbietigem Widerspruch, »geschickt genug – wirklich geschickt genug dazu.«
Es herrschte Schweigen. Der Mann zu Füßen des Ruhebettes hatte aufgehört, zu der Dame zu sprechen und zeigte ein schwaches Lächeln.
»Ich weiß nicht, ob Sie einander schon einmal begegnet sind«, sagte die große Dame.
Herr Vladimir und der Kommissar wurden einander vorgestellt und nahmen jeder des anderen Dasein mit gemessener Höflichkeit zur Kenntnis.
»Er hat mir Angst gemacht«, erklärte plötzlich die Dame, die neben Herrn Vladimir saß und deutete mit einer Kopfbewegung nach ihm. Der Kommissar kannte die Dame.
»Sie sehen nicht verängstigt aus«, meinte er nach einem forschenden Blick aus seinen müden, gleichgültigen Augen. Dabei stellte er innerlich fest, daß man in diesem Hause früher oder später jedermann treffen mußte. Herrn Vladimirs rosiges Gesicht war von einem Lächeln durchfurcht, weil er eben witzig war; in seinen Augen aber stand noch der Ernst der Überzeugung.
»Nun, er hat es wenigstens versucht«, gab die Dame zu.
»Die Macht der Gewohnheit vielleicht«, sagte der Kommissar in unwiderstehlicher Eingebung.
»Er hat der Gesellschaft alle Arten von Schrecken angedroht«, fuhr die Dame fort, in ihrer schleppenden, schmachtenden Redeweise. »Alles wegen der Explosion in Greenwich Park. Es scheint, daß wir alle in unseren Schuhen zittern müssen, beim Gedanken an das Kommende, wenn diese Leute nicht in der ganzen Welt unterdrückt werden. Ich hatte keine Ahnung, daß die Sache so ernst wäre.«
Herr Vladimir gab sich den Anschein, als hörte er nicht, beugte sich zu dem Ruhebett und sprach höflich und halblaut weiter, doch hörte er den Kommissar sagen:
»Ich zweifle nicht, daß Herr Vladimir die Wichtigkeit der Sache haargenau einzuschätzen weiß.«
Herr Vladimir fragte sich, wo der verwünschte, hergewehte Polizeimann hinaus wollte. Als Abkömmling einer langen Geschlechterreihe von Untertanen einer unumschränkten Macht hatte er aus Rasse-, wie aus persönlicher Anlage Angst vor der Polizei. Es war eine ererbte Schwäche, die sich seinem Urteil, seiner Vernunft und seiner Erfahrung entzog. Sie war ihm angeboren. Aber das Gefühl, das mit dem unvernünftigen Abscheu mancher Leute vor Katzen Ähnlichkeit hatte, hielt vor seiner unendlichen Geringschätzung der englischen Polizei nicht stand. Er beendete den an die große Dame gerichteten Satz und wandte sich in seinem Stuhl leicht um.
»Sie meinen wohl, daß wir die Leute genau kennen. Jawohl. Wir haben wirklich sehr viel zu dulden unter ihrer Tätigkeit, während Sie –« Herr Vladimir zögerte einen Augenblick und lächelte ratlos – »während Sie fröhlich ihre Anwesenheit in Ihrer Mitte dulden«, schloß er und zeigte Grübchen in jeder der glattrasierten Wangen. Dann fügte er ernsthafter hinzu: »Ich kann sogar sagen, weil Sie