»Ich dachte, Sie würden hier bleiben und Annie mitnehmen«, sagte die Schirmherrin von Michaelis.
»Ich sehe doch, daß ich heute abend noch eine Kleinigkeit zu tun habe.«
»In Verbindung –?«
»Jawohl – gewissermaßen.«
»Sagen Sie mir, was soll die grausige Sache bedeuten?«
»Das ist schwer zu sagen, aber vielleicht wird es noch eine cause célèbre«, meinte der Kommissar.
Er verließ das Wohnzimmer eilig und fand Herrn Vladimir noch in der Halle, wie er sich gerade ein großes Seidentuch sorgsam um den Hals wickelte. Hinter ihm wartete ein Lakai mit seinem Mantel. Ein anderer stand bereit, um die Türe zu öffnen. Man half dem Kommissar sofort den Mantel anziehen und ließ ihn hinaus. Nachdem er die Stufen vor dem Eingang hinuntergeschritten war, blieb er stehen, als überlegte er, welchen Weg er nehmen solle. Als er dies durch die offen gehaltene Tür sah, verweilte Herr Vladimir in der Halle, zog eine Zigarre heraus und verlangte Feuer. Ein alter Mann ohne Livree bot es ihm mit ruhiger Höflichkeit. Doch das Zündholz erlosch; da schloß der Lakai die Tür, und Herr Vladimir zündete sich bedächtig seine Havanna an. Als er schließlich aus dem Hause trat, sah er den »verdammten Polizeimann« immer noch auf der Straße stehen.
»Kann er etwa auf mich warten?« dachte Herr Vladimir und spähte links und rechts nach einer Droschke aus. Er sah keine. Einige Kutschen warteten längs des Randsteins; ihre Laternen brannten ruhig, die Pferde standen ganz still, wie in Stein gehauen, die Kutscher saßen so reglos in ihren Pelzmänteln, daß nicht einmal die Spitzen ihrer großen Bogenpeitschen zuckten. Herr Vladimir ging vorwärts, und der »verdammte Polizeimann« nahm an seiner Seite gleichen Schritt. Er sagte nichts. Nach dem vierten Schritt fühlte Herr Vladimir wütende Unruhe. Dies konnte nicht andauern.
»Sauwetter«, knurrte er böse.
»Milde«, sagte der Kommissar. Er schwieg eine Zeitlang. Dann bemerkte er obenhin: »Wir haben einen gewissen Verloc festgenommen.«
Herr Vladimir strauchelte nicht, fuhr nicht zurück, behielt seinen Schritt. Doch konnte er sich nicht enthalten, auszurufen: »Was!« Der Kommissar wiederholte seine Bemerkung nicht. »Sie kennen ihn«, fuhr er in gleichem Ton fort.
Herr Vladimir blieb stehen und bekam seinen Kehlton.
»Wie kommen Sie dazu, das zu sagen?«
»Ich sage es nicht. Verloc sagt es.«
»Irgend ein lügnerischer Hund«, sagte Herr Vladimir in plötzlich orientalischer Ausdrucksweise. Sein Herz aber war fast von Ehrfurcht erfüllt angesichts der wunderbaren Geschicklichkeit der englischen Polizei. Der Wechsel seiner Ansicht in diesem Punkt war so unvermittelt, daß er einen Augenblick lang Übelkeit empfand. Er warf seine Zigarre fort und ging weiter.
»Was mir bei der Sache am meisten gefällt,« fuhr der Kommissar langsam fort, »ist, daß sie eine so vorzügliche Handhabe zu einem Unternehmen bietet, das meiner Überzeugung nach unbedingt begonnen werden muß – das ist, zu der Säuberung dieses Landes von all den ausländischen Spitzeln, Polizisten und – Hunden dieser Art. Meiner Ansicht nach sind sie unerhört schädlich; und auch eine ständig drohende Gefahr. Noch können wir sie nicht gut einzeln heraussuchen. Der einzige Weg ist, denen, die sie verwenden, ihre Verwendung zu verleiden. Die Sache wird ja anstößig! Und auch gefährlich für uns hier.«
Wieder blieb Herr Vladimir einen Augenblick stehen.
»Was meinen Sie?«
»Der Prozeß gegen diesen Verloc wird der Öffentlichkeit sowohl die Gefahr, wie die Anstößigkeit dartun.«
»Niemand wird glauben, was ein Mann dieser Sorte sagt«, meinte Herr Vladimir verächtlich.
»Die Unzahl genauer Einzelheiten wird für das Publikum zwingende Beweiskraft haben«, gab der Kommissar freundlich zu bedenken.
»Sie haben das also ernstlich im Sinn?«
»Wir haben den Mann. Uns bleibt keine Wahl.«
»Sie werden damit nur dem Lügengeist unter den revolutionären Schuften neue Nahrung geben«, widersprach Herr Vladimir. »Warum wollen Sie denn Skandal? – Wegen der Moral – oder weswegen?«
Herrn Vladimirs Unruhe war unverkennbar. Da der Kommissar sich so überzeugt hatte, daß in den gedrängten Angaben Herrn Verlocs einige Wahrheit liegen mußte, fügte er gleichgültig hinzu:
»Es gibt auch eine praktische Seite. Wir haben gerade genug zu tun, die echten Erzeugnisse im Auge zu behalten. Sie können nicht sagen, daß wir hierin erfolglos sind. Aber wir denken nicht daran, uns, ganz gleich unter welchem Vorwand, mit Fälschungen behelligen zu lassen.«
Herrn Vladimirs Ton wurde hochmütig.
»Ich für meine Person kann Ihre Ansicht nicht teilen. Sie scheint mir selbstsüchtig. Meine Gefühle für mein eigenes Land unterliegen keinem Zweifel; dabei aber habe ich immer empfunden, daß wir nebenher auch gute Europäer sein sollten – das gilt für Regierungen und Menschen.«
»Jawohl,« sagte der Kommissar einfach, »nur sehen Sie Europa vom anderen Ende her an. Aber«, fuhr er gutmütig fort, »die fremden Regierungen können über die Erfolglosigkeit unserer Polizei nicht klagen. Sehen Sie sich diesen Fall an, der insofern verzwickt war, als es sich um bestellte Arbeit handelte. In weniger als zwölf Stunden haben wir die Persönlichkeit eines Menschen festgestellt, der buchstäblich in Fetzen zerrissen war, haben den Anstifter herausgefunden und sogar noch die Spur entdeckt, die zu ihrem Urheber hinter ihm führt. Wir hätten noch weiter gehen können; nur haben wir an den Grenzen unseres Gebiets Halt gemacht.«
»So wurde also dieses lehrreiche Verbrechen auswärts geplant?« fiel Herr Vladimir schnell ein. »Sie geben zu, daß es auswärts geplant wurde?«
»Theoretisch, nur theoretisch auf fremdem Boden; auswärts nur dem Wort nach«, sagte der Kommissar und spielte damit auf die Eigentümlichkeit der Gesandtschaften an, die als Teile des Landes gelten, dem sie angehören. »Aber das ist Nebensache. Ich habe mit Ihnen davon gesprochen, weil Ihre Regierung am meisten an unserer Polizei auszusetzen hat. Sie sehen, daß wir nicht gar so schlecht sind. Ich hatte den besonderen Wunsch, Ihnen von unserem Erfolg Mitteilung zu machen.«
»Ich bin Ihnen gewiß sehr dankbar«, murmelte Herr Vladimir durch die Zähne.
»Wir können die Hand auf jeden Anarchisten im Lande legen«, fuhr der Kommissar fort, als wollte er den Inspektor Heat zitieren. »Nun bleibt nichts weiter zu tun übrig, als mit dem Lockspitzel aufzuräumen, damit die Sicherheit nicht weiter gefährdet wird.«
Herr Vladimir winkte mit der Hand einer vorüberfahrenden Droschke.
»Gehen Sie nicht hier hinein?« fragte der Kommissar und sah nach einem einladenden prächtigen Bau, durch dessen breite Glastüre ein Lichtstrom aus der großen Halle auf die Freitreppe herausfiel.
Doch Herr Vladimir saß mit steinernem Gesicht im Wagen und fuhr ohne ein Wort davon.
Der Kommissar selbst betrat den Prachtbau nicht. Es war das Klubhaus der »Forscher«. Er mußte daran denken, daß Herr Vladimir, das Ehrenmitglied, in Zukunft nicht allzu oft dort gesehen werden würde. Er blickte auf die Uhr; es war erst halb elf. Sein Abend war gut ausgefüllt gewesen.
XI
Nach Inspektor Heats Weggang wanderte Herr Verloc im Wohnzimmer herum. Von Zeit zu Zeit spähte er durch die offene Tür nach seiner Gattin. Nun weiß sie alles, dachte er und empfand einiges Mitleid mit ihrem Kummer, doch auch einige Genugtuung in bezug auf sich selbst. Herrn Verlocs Seele war, wenn ihr vielleicht auch die Größe fehlte, dennoch zarterer Gefühle fähig. Der Gedanke, der Frau die Neuigkeit beibringen zu müssen, hatte ihm Fieber